Ausstellung: H.P. Schlotter. Gefäße der Erinnerung
Galerie Oberlichtsaal Sindelfingen, 27.2.2025
Einführung von Christina Ossowski
Es gibt Bildgegenstände und Bildmotive, die fest in unserem Gedächtnis verankert sind. Das hat viel zu tun mit unserer christlich geprägten Kultur. Dazu zählt ein Gegenstand wie die Schale, die sicher zu den frühesten Hilfsmitteln gehörten, derer sich die Menschen bedienten, um Flüssigkeiten aufzufangen oder Körner zu sammeln. In der künstlerischen Umsetzung ging es von vornherein um die äußere Form der Schale und deren Inhalt. Zuerst war die gemalte Schale im Mittelalter als Behältnis für den abgetrennten Kopf Johannes des Täufers aufgetaucht, bspw. in einem Fresco des Klosters Piona am Comer See, dann später neben anderen bei Cranach und Caravaggio sowie im Jugendstil bei Abrey Birdsley. Salome hatte durch ihren Schleiertanz den Stiefvater Herodes dazu gebracht, dass der Prediger geköpft und dessen Haupt in einer Schale zu ihr gebracht wurde. Sie wollte ihn unbedingt küssen, was er ihr zuvor verweigert hatte.
Warum rede ich davon? Mir ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Peter Schlotter mit dem Motiv der Schalen und der abgetrennten Köpfe in einer langen Traditionslinie steht, mit der er nicht bricht, sondern sie als kulturelle Wurzeln bewahrt, indem er sie verwandelt und aus unserer Zeit heraus neu interpretiert. Dabei verarbeitet er gekonnt vielerlei Einflüsse. Auch der Zufall beim Lesen, Blättern in Zeitschriften oder die Anregungen durch andere Kunstwerke haben eine Rolle gespielt, so auch bei der Hinwendung zu dem Vasenmotiv. Aber dazu später.
In fast allen hier gezeigten Bildern finden sich solche solitären Köpfe, mal mit geschlossenen, mal mit geöffneten Augen. Nicht zufällig erinnern sie an Skulpturen. Angeregt dazu wurde Peter Schlotter durch den berühmten Marmorkopf „Schlafende Muse“ des Bildhauers Brancusi, den er in seiner ersten Begeisterung selbst in Stein nachgebildet hat. Erst danach finden sich ähnliche ovale Köpfe in seiner Malerei. Es sind abstrakte Sinnbilder für ein in sich ruhendes menschliches Wesen. Individuelle Gesichtszüge sind zurückgenommen, die Einfachheit des Ausdrucks wird durch keinen illusionistischen Realismus gestört. Daher sprudelt aus diesen Köpfen niemals Blut so wie wir es aus vielen älteren Kunstwerken kennen – sei es beim Kopf des Holofernes, den Judith enthauptete oder bei den Zeichnungen von Opfern der Guillotine. Wie bedeutungsvoll diese reduzierte Kopfformen schon für Brancusi waren zeigt sein männliches Pendant als Prometheus.
Peter Schlotters gemalte Köpfe sind Sinnbilder, genauso wie die Schalen und Vasen Gefäße der Erinnerung sind – Behälter der Substanz des Lebens. Keine Porträtähnlichkeit lenkt von diesen „Denkbildern“ ab. In poetischer Metamorphose entstehen nahezu ovale Gebilde mit Augen, Nase und Mund. Halsansatz und Schultern fallen weg. Die geschlossenen Augen ermöglichen das träumerische Einfühlen des Betrachters. Dabei hatte sich Peter Schlotter sehr wohl auch mit Porträts befasst, von denen hier drei markante Physiognomien aus dem Jahr 2012 zu sehen sind. Freilich haben seine Köpfe inzwischen diese individuellen Gesichtszüge verloren. Sie liegen und schweben durch die weiten Bildräume als Gegenstücke zu Schalen und Vasen. Durch sie ist der Mensch gegenwärtig in den Stillleben der Dinge.
Damit komme ich zu einer weiteren historischen Wurzel der Kunst von Peter Schlotter, dem Stillleben, das besonders im 18. Jahrhundert in Holland eine Blütezeit erlebte. Damals ging es den Künstlern um prächtig leuchtende Darstellungen von Blumen, Früchten und Gefäßen, die durch lasierende Ölmalerei erzeugt wurde. Gleichzeitig ging es um die Vergänglichkeit alles Irdischen, denn einige der Blumen verwelkten schon und manches Obst schimmelte. Auch bei Peter Schlotter finden sich faszinierende Farben, die jedoch nie die realen Gegenstände imitieren wollen. Seine Farben, die zumeist aus roten, gelben, grünen oder blauen Pigmenten bestehen, die mit Acryl gebunden sind oder pulverförmig auf Nessel oder Papier aufgebracht werden, erzeugen mal satte, mal durchscheinende Farbflächen, die aber nie glänzen oder spiegeln. Sie saugen eher mit ihren samtigen oder transparenten Oberflächen den Blick in die Tiefe.
1949 in Stuttgart geboren hat sich Peter Schlotter während seiner Studien an der Kunstakademie Stuttgart und am Exeter College of Art in Großbritannien nicht nur mit Malerei, sondern auch mit Kunstgeschichte und Anglistik befasst. Seit langem lebt er in Weil der Stadt. Auch dort hat ihn seine besondere Affinität zur Literatur, Musik und zu kunstgeschichtlichen Bezügen nie verlassen, insbesondere die Liebe zum Buch – wie seine Malbücher eindrucksvoll belegen. Er selbst zählt u.a. den Surrealisten Max Ernst, Sänger wie Bob Dylen und Leonhard Coen sowie Dichter wie Paul Eluard und Fernando Pessoa zu seinen Anregern. Von Letzterem wählte er folgende, auf ihn zutreffende Zeilen für einen Katalog aus:
Ich bin wie jemand, der auf gut Glück sucht und
nicht weiß, wo der Gegenstand steckt, von dem ihm
niemand gesagt hat, was er ist.
Wir spielen Verstecken mit niemanden. Irgendwo gibt
es eine transzendente Ausflucht, eine verfließende
Gottheit, die nur von Hörensagen bekannt ist.
Peter Schlotter ist ein bekennender Sammler. Fundstücke aller Art füllen seine Regale und Vitrinen: Zweige, Früchte und auch rätselhafte Objekte, wie hier beispielsweise in den beiden aufgestellten Schalen. Er verarbeitet sie vor allem in den Malbüchern, in denen er seit vielen Jahren täglich Eindrücke vom Tag festhält. Die umfangreiche Werkgruppe diese Malbücher hebt ihn durch die bewundernswerte Konsequenz und nicht versiegende Phantasie, mit der er kontinuierlich an diesen außergewöhnlichen Bild-Tagebüchern arbeitet, aus dem Kreis der Künstler hervor, die sich überhaupt noch mit Skizzenbücher beschäftigen. Zwei Beispiele, in denen Sie blättern dürfen, liegen hier in der Ausstellung aus. Aber auch kleinere Papierarbeiten, wie die Vasenmalereien im hinteren Teil der Ausstellung, bewahren Eindrücke, Ideen und gesammeltes Material auf, die später als Impuls für die großformatigen Bilder dienen können. So gelangten auch die an antike Amphoren erinnernden, bauchigen, enghalsigen Gefäße meist mit zwei Henkeln in seine Bildwelt. Anfangs als Scherenschnitt aus einer Zeitschrift, dann übermalt, mit verschiedenfarbigen Inhalt versehen, und schließlich sogar monumental in menschlicher Größe. In der Antike wurden die Amphoren als Vorrats- und Transportgefäße eingesetzt, aber auch als Urnen bei Brandbestattungen. Für Peter Schlotter sind die Vasen genauso wie die Schalen essenzieller Ausdruck von einfachen und gleichzeitig schönen Gefäßen. Als Ergebnis seiner künstlerischen Anstrengung gelingt ihm eine Einfachheit der Form, in der die komplexe Vielfalt natürlicher Formen aufgelöst wird. Damit meine ich nicht das Aufheben der Komplexität im Sinne von Beseitigung, sondern ein Aufheben als Bewahren. Sie sind simpel und komplex zugleich. Neben der äußeren Form spielt das Innenleben eine große Rolle, denn meist sind die Vasen durchsichtig und geben den Blick auf mannigfaltige Farbstrukturen frei. Geometrisches und Biomorphes gehen dabei eine Verbindung ein.
Betrachtet man die jüngste, sechsteilige Bildserie „Secret life“ so stehen oder liegen Vasen und Köpfe vor einem farblich und an Strukturen reichen Hintergrund. Der teilweise transparente Farbauftrag verbirgt immer ein darunterliegendes Bild – einzelne Formen sind jedoch noch erkennbar. Diese versteckten Bilder führen ein geheimes Leben, wie der Titel der Serie besagt. Mit Hilfe von Fotografien der 2004 entstandenen gleichnamigen Bildserie wurden maschinell Digitalprints auf Canvas gedruckt, die dann als eine Art Grundierung für das neue Bild dienten. Dadurch evozieren nicht nur die Gefäße Erinnerungen an früheres Geschehen, sondern auch die Fläche dahinter offenbart Formen, die in die Vergangenheit weisen. Eigentlich handelt es sich sogar um eine dreifache Wiederverwendung von Bildmaterial, denn am Beginn standen die „Stolen Images“, kleine Collagen aus dem Jahr 2002. Solche Collagen beschäftigen den Künstler seit langer Zeit. Beständig sucht und findet er Bildmaterial aus Zeitungen, Werbeprospekte, Zeitschriften. Durch deren Zusammenfügen und Kombinieren in Collagen erzeugt er völlig neue Bedeutungen und Sinnzusammenhänge. Eine Methode, die zuerst Max Ernst praktiziert hat. Außerdem ergänzt Peter Schlotter diese Collagen abschließend durch malerische und zeichnerische Spuren. Einige dieser Collagen erfuhren damals eine Verwandlung durch die Herstellung von Digitalprints auf Canvas, die damit verbundene Vergrößerung und anschließende Übermalung. Heiderose Lange bemerkte zur Metamorphose der kleinen Collagen in die erste „Sekret Life“ – Bildserie: „Der auf diese Weise gewachsene Bildraum wandelt sich von einem Ausschnitt der Welt als Blick in einen Mikrokosmos in einen intimen Innenraum oder eine Nische, zu einem Außenraum, der in die Weite und die Tiefe führt“. Die neuen Bilder von Bildern kombinieren nun diese weiten und in die Tiefe führenden Hintergründe mit den deutlich gezeichneten Gefäßen. Sowohl die Vase als auch der Kopf werden als Gefäße der Erinnerungen gedeutet. Der Betrachter mag sie zwar nicht immer entschlüsseln können aber er wird das Phänomen der Bewahrung von Vergangenem erahnen. Besonders reizvoll erweisen sich dabei die scheinbar haptischen Oberflächen, die zum einen durch die Beimischung von Sand in die Farben erreicht wird. Zum anderen sind durch die Vergrößerung der Ausgangsfotos im Digitalprint unerwartete Pixelmuster entstanden, die den Farbraum bereichern.
Wer nun meint, dass Peter Schlotter mit dieser Bildserie alles Wesentliche über die Gefäße der Erinnerung gesagt hat wird überrascht durch die großformatige Komposition „Gefäße“. Fünf Vasen und sechs Köpfe bedürfen hier keines mehrfarbigen Hintergrundes, denn das typische ultramarine (Schlotter) Blau bietet ihnen einen magischen Raum. Aufrecht, liegend und schwebend füllen die Vasen aus schillerndem, transparenten Glas diese blauen Sphären. Trotzdem bleibt genügend Platz für die Köpfe, deren Augen dieses Mal geöffnet sind, als würden sie uns beobachten. Zwei Kopf verbinden sich ganz mit dem tiefblauen Hintergrund, die anderen dringen entweder vollständig oder teilweise als Silhouetten durch das Glas der Vasen. Schwerelos schweben diese reizvollen Objekte, um in einem poetischen Bild aufzusteigen wie Blasen im Ozean oder Gestirne am nachtblauen Himmel.
Der Kreis meines Rundgangs durch die Ausstellung schließt sich mit dem leuchtend gelben Bild „Das belanglose Wunderbare…“. Der Blick wird angezogen von einer ebenmäßige Schale, in der ein Kopf liegt. Dieser Kopf ist auf eine ultramarinblaue Unterlage gebettet. Die ganze Atmosphäre dieses Bildes wirkt auratisch. Hier geht es um etwas besonders Schönes, ja Auserwähltes. Der Titel verweist jedoch auf Gegensätzliches. Einerseits steht da „belanglos“ andererseits „das Wunderbare“. Belanglos mögen die dargestellten Gegenstände sein, eine Schale, ein stilisierter menschlicher Kopf, eine gezeichnete Blüte und herumfliegende Farbschnipsel vor gelbem Grund. Die Art und Weise jedoch wie sie anordnet sind, wie sie komplexe Assoziationen auslösen und dazu ihre lichte Farbigkeit berechtigen zu dem Ausdruck „das Wunderbare“. Sinnbildlich sind Erinnerungen in beiden Gefäßen bewahrt. In keinem anderen Fall ist die Wiedergabe von Brancusis Skulptur einer schlafenden Muse so ähnlich geraten wie bei diesem Kopf. Sowohl bei dem Bildhauer als auch bei Peter Schlotter schließt diese essentielle Form viele Deutungsmöglichkeiten ein. Nicht individuelle Gesichtszüge einer Frau, sondern ihre Schönheit im Schlaf sind in einer ersten Bedeutungseben angesprochen. Nimmt man die blaue Farbschicht als marianisches Zeichen dazu kommt nicht nur die christliche Madonna ins Spiel, sondern das weibliche Geschlecht ganz allgemein. Singt Peter Schlotter hier etwa ein Hohelied auf die Frauen? Die zarte Blüte würde dafürsprechen, ebenso der leuchtend gelbe Farbraum von großer Strahlkraft und Energie.
Da fällt mir zum Schluss eine Aussage von Wassili Kandinsky ein. Er sprach davon, dass ein Kunstwerk ein geistig atmendes Subjekt sei, in dem sich der innere Klang und die psychische Kraft der Farbe mit der kosmischen Bedeutung und dem geistigen Leben der Form verbindet.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen anregende Begegnungen mit Peter Schlotters Gefäßen der Erinnerung.