Meist wurden diese Texte als Eröffnungsreden bei Ausstellungen gehalten.
Horst Peter Schlotter
>Kopf und Gefäß<
Ausstellung im KV Oberer Neckar im Kloster Horb
- März – 22. April 2022
„Malgré tout“, meine Damen und Herren,
„malgré tout“ – „trotz alledem“!Mit diesem widerständigen Lebensmotto des Holzschneiders HAP Grieshaber von der Reutlinger Achalm darf ich Sie in diesen wirklich schwierigen Zeiten zur Eröffnung der Ausstellung des Malers und Bildhauers Horst Peter Schlotter im Kunstverein Oberes Neckartal im alten Kloster zu Horb herzlich begrüßen.
Die „schwierigen Zeiten“ hatte ich vor etlichen Tagen auf die allgegenwärtige Pandemie gemünzt, allein seit das russische Militär sein „Brudervolk“ der Ukraine in einem Angriffskrieg überfallen hat, sprechen wir gar von einer Zeitenwende – d.h. von einem Einschnitt in die Geschichtsschreibung, vergleichbar der französischen Revolution im 18. Jahrhundert, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert.
Das Bild des Diktators aber, wie er an endlos langen Tischen seine Speichel-lecker examiniert, wird wohl im kollektiven Gedächtnis der Welt haften bleiben.
Ich warte auf dem Moment, an dem dieser durch und durch lügnerische Despot im Gelsenkirchener Barock des Kremls von einem Kind im zivilisatorischen Sinne als„nackt“entlarvt werden wird und damit einer vernichtenden Lächer-lichkeit preisgegeben werden kann.
Angesichts dieser aktuellen Ereignisse über Kunst zu sprechen, Kunst zu produzieren und Kunst zu vermitteln, ist nicht einfach! – Aber, meine Damen und Herren, es gilt etwas dagegen zu setzen:
Kultur steht dem Krieg diametral entgegen –
daher ist sie in diesen schwierigen Zeiten geradezu ein MUSS!
Ich darf Ihnen zunächst einen Überblick geben über die fünfGesichtspunkte, unter denen ich Ihnen einige Informationen und Anregungen zu Horst Peter Schlotters Malerei unter dem Titel „Kopf und Gefäß“ geben möchte:
- Eine persönliche Bemerkung vorab
- Malerei im kulturgeschichtlichen Kontext und mehr
- The Daily Schlotter
- Über Titel – oder was uns Worte sagen können
- Über das Erklären von Bildern
- Eine persönliche Bemerkung:
Spätestens seit dem Ende der Studienzeit an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste im Jahr 1974 gab es ein gemeinsames Projekt, eine Art Gruppe, deren zentrales und verbindendes Ziel die Kunst der Radierung war.
Damals bildete sich eine Vierer-Gruppe, der ich selbst auch angehören durfte: – Norbert Stockhus(den man hier im KV auch sehr gut kennt) und Andreas Grunert(heute ebenfalls überregional wohl bekannt) und eben auch Horst Peter Schlotterwaren mit dabei-, neben etlichen gemeinsamen Ausstellungen entstanden auch zwei Mappenwerke, -es war die Blütezeit der Druckgraphik.
Ergänzt um einige weitere Freunde aus der Akademiezeit, -ich nenne hier nur die Namen von Rolf Altenaund Werner Lehmann-, bildete sich ein Freundes-kreis, der sich bis auf den heutigen Tag in gegenseitiger Achtung und Anerkenn-ung auf persönlichem und bildnerischem Gebiet austauscht und begegnet.
Mit anderen Worten: Es ist sehr wahrscheinlich, daß die folgenden Ausführ-ungen von dieser jahrzehntelangen Beziehung beeinflußt, wenn nicht gar geprägt sein werden. Außerdem ist mein Freund Schlotter exakt einen Tag älter als ich selbst, – was immer dies auch bedeuten mag.
Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind somit vorgewarnt, die notwendige Transparenz ist hergestellt.
- Zur Malerei im kulturgeschichtlichen Kontext und mehr
Wir sprechen hier über Horst Peter Schlotter als Maler, – der veritable Bildhauer mit seinen großformatigen Holz- und Bronze-Skulpturen wird in dieser Ausstell-ung, -wie manch andere Aspekte seines Schaffens-, nicht präsentiert.
Ein Maler in unseren Tagen ist eigentlich eine anachronistische Erscheinung.
Allgegenwärtig wird doch die Digitalisierung unserer Welt gepredigt, -der Welt, in der wir täglich und durchgehend leben. Es ist festzustellen, daß die virtuellen Bilder bereits in hohem Maße mit der Realität konkurrieren. Und es gibt Zeitgenossen, die den Unterschied oft nur noch schwer wahrnehmen können.
Dies ist ganz offensichtlich eine Tatsache, die auch mit der Verunsicherung belegt werden kann, hervorgerufen durch die zunehmende Erscheinung sog. Fake-News. – Die uralte Frage lebt: Was ist Wahrheit!
Schlotters Aktion als Maler, sein Handeln, sein Sichtbarmachen, – mithin seine Malerei-, ist ein durch und durch analoger Vorgang. Alle Tätigkeiten, -von der Vorbereitung der Bildgründe, dem Malen selbst bis zum Transport der Bilder in eine Ausstellung wie diese-, sind händisch ausgeführte Vorgänge. In jedem Strich, in jeder Fläche, in jedem Farbauftrag, spüren wir das Einmalige, das Charakteristische, das Individuelle der Persönlichkeit von Horst Peter Schlotter. Alle seine Bilder und durchgehend in allen Größen, sind geprägt von dem gestischen Charakter seiner realen, seiner körperlichen Aktion.
Dabei ist er im eigentlichen Sinne immer zunächst ein Zeichner, der sich mit dem Stift der Linie verpflichtet fühlt. Konzentrieren wir uns in den Arbeiten für einen Augenblick auf die tiefschwarzen Linien der Holzkohle, so folgen wir der Aktion seiner Hände. In ersten Schritten wird die Bildfläche aufgeteilt und Schwerpunkte gesetzt, Gegenständliches skizziert, präzisiert und gegeben-enfalls erweitert und verändert. Dies ist der Prozeß der Bildfindung, der sich dabei im Wechsel mit dem flächigen Mittel der Farbe vollzieht.
Das Stichwort Farbe ist gefallen. Dazu folgende Anmerkungen:
Den erfahrenen Besuchern und Bildbetrachtern ist es schon aufgefallen, daß Farbe und ganz besonders der Farbauftrag bei Schlotter von eigener Art ist.
Dünn wie ein Hauch und transparent einerseits,
intensivst kraftvoll und leuchtend andererseits.
Beachten Sie unbedingt auf der ausliegenden Bildliste, wie penibel der Maler darauf seine Maltechnik, bzw. das Material seiner Bilder differenziert benennt. Er benennt PAN, PAP, PAL, & PAColl.P. Der Buchstabe P steht dabei für das Wort Pigment, die Pulverform der Farbe. Er kommt in allen vier in sich unter-schiedenen Beschreibungen vor und wir erkennen, daß Schlotter keine handels-üblichen Farben aus Tuben oder Flaschen benutzt, sondern seine Malfarben jeweils aus fein geriebenem Pigmentpulver mit Acrylbinder herstellt. Im Resultat wird dadurch eine breitdifferenzierte Palette des Farbauftrags ermöglicht.
Selbst mit offenen und zunächst nicht fixierten Pigmenten arbeitet Schlotter, um damit ganz besondere Farberscheinungen und Oberflächen zu erzeugen. Wenn dann das noch lose Pigment über die Bildfläche rieselt, erinnert mich die dabei entstehende Spur spontan an die abregnenden Wolken, wie ich sie staunend zum ersten Mal auf Bildern des altdeutschen Malers Grünewald gesehen hatte.
Es sind mithin die Maler, die uns mit ihrer intensiven Naturbeobachtung das Sehen lehren können.
In diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen auch, sich einmal den Film mit dem Titel „Ein kurzes Portrait“ anzusehen, den der Filmemacher Gerhard Stahlüber Horst Peter Schlotter gedreht und hergestellt hat. Er hat eine Länge von 16 Minuten und ist auf der sehr ordentlich gepflegten und reich bestückten Homepage Schlotters zu finden. In diesem Film demonstriert er in sehr anschaulicher Weise u.a. auch Einblicke in seine malerischen Praktiken.
- The Daily Schlotter
Gerade in diesem Film gibt Horst Peter Schlotter auch Hinweise zu einer sich selbst auferlegten täglichen Arbeit, in den eigens für ihn angefertigten, großen Skizzenbüchern im Format 40 x 30 cm. Begonnen in den frühen 1980er Jahren,
ist in diesen Büchern, -die mittlerweile einen eigenen Raum füllen-, ein sehr persönliches und zugleich einzigartiges Zeitdokument entstanden.
Der Rhythmus von Tag zu Tag, -ein Rhythmus, dem wir alle unterliegen-, fixiert sinnlich erfahrbar das Phänomen der Zeit. Für Schlotter ist es auch der bewußte Einstieg in das Hamsterrad unserer Existenz und entspricht damit dem antiken Mythos des Sisyphos‘, -der den Stein stets aufs Neue den Berg hinauf rollt und den wir uns nach Albert Camusals glücklichen Menschen vorstellen dürfen.
Auch für den Maler gilt: Nach dem Bild – ist vor dem Bild!
Mit diesen Betrachtungen haben wir uns schon beträchtlich nahe an die Person Schlotters heran begeben und so ist es nur folgerichtig, eine Art Personenbe-schreibung anzuschließen, wie sie sich mir aus persönlicher Erfahrung darstellt:
Horst Peter Schlotter ist ein kommunikativer Mensch von hohen Graden. Er liebt die menschliche Gesellschaft, das Gespräch, den Austausch. Ein Verweis auf die langen Jahre seiner Lehrtätigkeit und der Kunstvermittlung ist hier ange-bracht. So ist er seit 25 Jahren eine tragende Säule des Kunstforums Weil der Stadt, angesiedeltin der dortigen Wendelinskapelle. Ich habe keine Scheu in diesem Zusammenhang von einer Ära Schlotterzu sprechen.
Diese Beschreibung wäre aber unvollständig, wollte man das Stichwort Geselligkeit nicht um den Aspekt des Gastmahls erweitern. Essen & Trinken, ja, Schlotter ist ein Genußmensch, gerade zu ein Gourmet, der selbst gerne in der Küche arbeitet und zubereitet – ein Hinweis, der sich unbedingt mit den Tätig-keiten im Atelier deckt. Auch dort wird -metaphorisch gesprochen- gekocht!
Selbstverständlich hinterlassen derartig ausgeprägte Eigenschaften auch Spuren in seiner Malerei, am deutlichsten wohl ist dies in unserer Ausstellung in dem Diptychon, dem zweiteiligen Bild mit dem Titel Tischrundenachweisbar. (Nr. 34)Sechs Köpfe und sechs flache Gefäße sind um eine Tischfläche versammelt!
In der Summe darf ich feststellen:
Sinnlichkeit, wohin man auch schaut!
Sinnlichkeit und Geist, das sind die Grundlagen, aus der Kunst entsteht.
- Über Titel – oder was uns Worte sagen können
Mit den bisherigen Informationen können wir uns den Inhalten zuwenden, die hier in der Ausstellung mit einem programmatischen Titel präsentiert werden:
Kopf und Gefäß– die Festsetzung einer derart dialogisch fixierten Überschrift ruft nach Hinterfragen und Klärung dieser Begriffe. Zugleich müssen wir uns klar machen, daß dies auch eine verpflichtende Prämisse für dem Maler selbst ist. Er gibt sich mit diesen Worten etwas vor, denen er selbst in der Arbeit wieder gerecht werden muß. Auf jeden Fall ist damit für einen Spannungsbogen gesorgt, die Erkundung des selbstgewählten thematischen Rahmens kann beginnen.
Könnte man meinen! – Im hier vorliegenden Fall verweist Horst Peter Schlotter selbst mit frühen Vorläufern, daß diese thematische Konstellation im Laufe der Jahre allmählich herausgewachsen ist. Unter der Nr. 24 mit dem Titel Ohne Sein kein Sollenist eine kleine Arbeit auf Papier zu sehen, die auf das Jahr 1997 datiert ist, was mithin eine Zeitspanne von 25 Jahren dokumentiert.
Aber nähern wir uns dem Thema genauer an:
Der Kopf wird gemeinhin als der edelste Teil des menschlichen Körpers bezeichnet. Er trägt und schützt das Gehirn, die Schaltzentrale und mithin das Zentrum unseres Selbstverständnisses als menschliches Individuum.
Der Kopf allein, -wie er hier im Titel und in den Bildern auftaucht-, steht immer und mit vollem Recht damit für die ganze Person. Ein Mensch ohne Kopf, -der kopflose Mensch, der Geköpfte-, gehört nicht in den Bereich des Lebendigen, er ist tot.
Damit haben wir aber auch schon eine Querverbindung zum dialogischen Gegenüber geschlagen und eine wesentliche Gemeinsamkeit von Kopf und Gefäß beschrieben – unabhängig von der äußeren Form ist auch der Inhalt jeweils von erheblicher, qualitativer Bedeutung.
Doch bleiben wir noch bei den Unterschieden, wie sie sich bei einer ersten Untersuchung doch rasch feststellen lassen:
Der Kopf, -wie auch der Mensch zur Gänze selbst-, ist ein Produkt der Natur. Seine äußere Gestalt, sein innerer Aufbau, seine funktionalen Stärken und Schwächen sind evolutionär, d.h. nach Darwins Theorie gegeben oder in der Annahme einer religiösen Begründung, erschaffen durch einen Schöpfer-Gott. Auf jeden Fall handelt es sich mit der Kategorie „Kopf und Gefäß“ um ein großes Thema, das dem Maler Schlotter ein breites Spiel-Feld an inhaltlichen Assoziationen eröffnet.
Zusammen mit den ungewöhnlichen Titeln, die Schlotter seinen Bildern gibt, gibt er sich uns zugleich als ein homme de lettrezu erkennen, der sich in der Poesie ebenso wie in der Kunstgeschichte zu Hause fühlt – er ist der Welt in ihrer ganzen sinnlichen Fülle zugewandt. Um es mit anderen Worten auszudrücken: Wir finden hier eine Überdosis Weltgeschehen!
Dem Kopf gegenüber gestellt ist das Gefäß – auch an diesem Begriff läßt sich das eben Gesagte nachweisen, von der flachen, tellerartigen Platte fast ohne Wölbung, über die offene Schale -in der Schlotter auch mit Vorliebe seine Farbe anreibt-, der hohen Schüssel, gefüllt mit den unterschiedlichsten Funden bis hin zur antikisch entlehnten hohen Vase, die uns letztlich zur Urne wird.
Immer wieder auch verschmelzen Kopf und Gefäß zu einer untrennbaren Einheit. Schlotter selbst ist es, der mit dem Bildtitel Rhytonauf den Ursprung dieser Kopf-Gefäß-Einheit aus dem antiken Kreta verweist. (Nr.21)
Dieses „zur Deckung bringen“, dieses „Herstellen einer neuen bildnerischen Einheit“, erinnert mich an die Notwendigkeit, noch auf einen sehr spezifischen Vorgang bei Horst Peter Schlotters malerischer Praxis hinzuweisen:
Das Eröffnen, -anders formuliert: Das Beginnen-, ist eine der wichtigen, bzw. der erschwerten Teile des Malens – es gilt zunächst den horror vaccuider leeren Leinwand, des weißen Blattes, zu überwinden. Zugleich gilt die alte Regel des guten Anfangs einer Geschichte, die man nur dann angehen darf, wenn man nicht weiß, wie diese Erzählung enden wird! Klingt paradox, ist es sicher auch, hält aber den Spannungsbogen -in diesem Fall für den Maler-, wunderbar am Leben.
Für Schlotter selbst ist das Beginnen aber -mit der jahrzehntelangen Übung und Erfahrung auf der Haben-Seite-, kein Problem. Auf ein bewährtes Mittel seiner malerischen Praxis darf ich explizit hinweisen: DasPalimpsest! – Jeder Maler weiß: Malen, das bedeutet immer auch Übermalen. Die antike Praxis, alte, auf feinstes Leder geschriebene Texte, durch Abschaben der Tusche-Buchstaben für erneutes Beschreiben wieder verfügbar zu machen, steht dafür Pate. Ursprünglich als gelungene Form eines Recycling-Verfahrens angesehen, wuchsen im Laufe der Zeit die Reste der abgeschabten Texte wieder durch, kamen wieder zum Vorschein. Ein Vorgang, der im Ergebnis als Palimpsestbezeichnet wurde.
Bei Horst Peter Schlotter finden wir etliche Arbeiten auch in dieser Ausstellung,
bei denen ältere Bilder schlicht übermalt, bzw. neu und rasch grundiert wurden und allein dadurch eine lebendig-anregende Fläche für den Maler boten.
In besonders reichem Maße wird dies technisch erweitert auch in den kleineren Arbeiten hinten im Gang vorgeführt. Schlotter reproduziert fotographisch Teile wiederum auf Papier, das durch die Bearbeitung mit Wachs transparent wird.
Auf diese Weise kann er Bild- oder Textfragmente selbst von der Papierrück-seite wieder bildwirksam werden lassen. Zusätzlich Überarbeitung mit farbigen Stiften oder Kreiden bereichern das inhaltliche Spiel in der mannigfachen Überlagerung von Flächen und Linien. Man darf diese kleinen Formate nicht unterschätzen.
Groß oder klein – die Formatfrage ist aber nicht wirklich entscheidend. Nahezu mühelos gelingt es Schlotter durch den Vortrag seiner gestisch-großen Formen, gepaart mit intensivst vitaler Farbwirkung einen Raum mit einem Bild aufzuladen, ihn regelrecht zu füllen!
Dazu darf ich Sie hier im großen Raum auf die Reihe der vier wirkmächtigen Arbeiten mit dem Titel Tisch I-IV verweisen. Einerseits unbestritten kraftvoll zeigen sich Köpfe und Gefäße dicht aufgeladen mit einer komplementär zu nennenden Farbvielfalt. Andererseits steht der Betrachtende nachdenklich davor, sinnierend über den Weg der Realisation dieser komplexen Erscheinung.
Es spricht für die Souveränität des Malers, daß er offen und ohne Geheimnis-krämerei über seine Bildfindungen Auskunft gibt – in diesem Falle kehrt Schlotter die Palimpsest-Idee einfach um: Zuerst war da ein freies Spiel mit der gesamten Farbpalette, die ihm zur Verfügung stand. Erst in einen zweiten Schritt wurde auf die gestaltlos gefüllten, farbgesättigten Leinwände die Kopf- und Gefäß-Formen gezeichnet. Durch den Einsatz der monochromen Tisch- und Hintergrundflächen wurden dies schließlich isoliert und zum Leuchten gebracht.
- Über das Erklären von Bildern
Neugierde ist eine interessante Eigenschaft von uns Menschen. Wissen-wollen, Kennenlernen-wollen, Verstehen-wollen erscheint als ein folgerichtig daraus abgeleiteter Dreisprung. – Mit den Bildern ist dies aber eine besondere Sache.
Das Eigentliche – so derMaler Alfons Hüppi,bleibt wortlos im Bilde!
Das Bild oder allgemeiner ausgedrückt, das Kunstwerk,
hat seine eigene, -nonverbale- Sprache. – Es ist alles da.
Ein Bild ist immer ein Bild. Worte sind immer Worte.
Sie können nichts ersetzen.
Und so sind es immer die Bilder, die Objekte selbst, die befragt werden müssen.
Ein Bild ist von außen betrachtet immer dasselbe Bild. Und doch verändert es sich mit jedem neuen Betrachter, mit dessen Fähigkeit zur Resonanz, mit dessen Wahrnehmungshorizont. Erst diese Begegnung macht es zum Kunstwerk,
erst in diesem Gegenüber kann es seine angestammte Aufgabe erfüllen,
seiner eigentlichen Funktion gerecht werden, sinnliches Medium zu sein.
Und somit wandeln sich die Bilder stetig, trotz ihrer äußeren Beständigkeit. Bleiben lebendig und können, –über die Zeiten hinweg-, immer wieder neu befragt und erfahren werden. – Und genau dies macht die Besonderheit der Bilder aus, resp. der Kunstwerke ganz allgemein und eben auch der Malerei
von Horst Peter Schlotter.
Mit einem kurzen Hinweis auf seine Kataloge und Bücher, die er Ihnen gerne signiert, danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
CHC Geiselhart, 13. März 2022
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© CHC Geiselhart, 72147 Nehren, Luppachstraße 30, www.chcgeiselhart.de
„In Stücken in der Zeit treiben“
Crailsheimer Kunstfreunde e.V.
Dr. Sabine Heilig, Nördlingen, im Februar 2016
In Stücken in der Zeit treiben
Sehr geehrte Frau Lindner, Sehr geehrter Herr Koch, lieber Horst Peter Schlotter, liebe Familie Schlotter, meine Damen und Herren,
der Titel dieser Ausstellung mit Malerei und Grafik von Horst Peter Schlotter hat neugierig gemacht: „In Stücken in der Zeit treiben“,
so heißt auch ein Gemälde des Künstlers. In der Ausstellungsankündigung liest man: „Das klingt gut und bleibt rätselhaft.“ Was man vielleicht mit Science Fiction in Verbindung bringen würde, ist die Abwandlung eines Zitats des österreichischen Dichters
Robert Musil (1880-1940) aus dessen berühmten Roman „Mann ohne Eigenschaften“. Darin erhebt Musil ganz grundsätzlich die Frage nach der Konstitution eines Subjekts. Der Protagonist des Romans befindet sich in einer existentiellen Krise und ist, vereinfacht gesagt, auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens. Er hinterfragt seine Person und seine Eigenschaften. Die Erkenntnis, eine bloße
Erscheinung in dieser Welt zu sein, zielt auf die subjektive Selbstwahrnehmung.
Der Gedanke, Leben als zeitliches Ereignis zu betrachten, in dem sich der Mensch verlieren kann, beinhaltet letztlich
auch etwas Flüchtiges, Vorübergehendes, Unvollendetes, worauf der Roman, der auch zeitgeschichtliche, politische Bezüge enthält, zielt.
Die Wirklichkeit als zu hinterfragendes Geschehen ist auch ein Thema im künstlerischen Werk von Horst Peter Schlotter. „Nichts ist
wie gedacht“, „Vom Schweren und Leichten/Hand anlegen“, „Die Dinge wie sie sind“ oder auch „Nicht immer sind die Dinge so“, um
hier nur einige Beispiele seiner Bildtitel zu nennen, dokumentieren einen Hang zur kritischen Auseinandersetzung mit den realen Erscheinungen und das Denken in Gegensätzen. Einfühlungsvermögen und eine gewisse melancholische Grundstimmung gehören unbedingt dazu.
Dabei dichtet man den Schwaben doch in erster Linie Bodenständigkeit,
Fleiß, Sparsamkeit und hintersinnigen Humor an und weniger
ein philosophisches Grübeln.
Schlotter, der 1949 in Stuttgart geboren wurde, lebt und arbeitet
noch heute im „Ländle“, also Bodenständigkeit! Unweit von der Landeshauptstadt
in Münklingen bei Weil der Stadt im Würmtal hat sich
der Künstler mit seiner Familie eingerichtet, ist in Haus und Garten
von seiner Kunst und derjenigen seiner Künstlerfreunde umgeben.
Der leidenschaftliche Koch und Hobbygärtner war übrigens Mitbegründer
des dortigen Kunstforums und ist seit über 20 Jahren für
die zeitgenössische Kunst aktiv tätig: Kunst ist sein Leben, Fleiß
also.
Dies bescheinigt man ihm auch gerne nach Besichtigung seines Ateliers.
Die Räume im Untergeschoss des Hauses beherbergen einen
großen Malraum, in dem eine lange Wand, aber auch der Fußboden
zum Malen zur Verfügung steht. Schon beim Hinabsteigen sieht
man überall Werke vor den Wänden stehen, muss sich der Besucher
entlang langer Reihen von Kunstwerken seinen Weg bahnen.
Ein separater Raum dient dem grafischen Schaffen, in dem jeden
Tag gearbeitet wird. „Zeichnen ist meine tägliche Arbeit“, sagt
Horst Peter Schlotter und zeigt nicht ohne Stolz auf das Konvolut
der vielen Malerbücher, die in schwarzem Einband mehrere Regalböden
füllen. 1987 hat er damit begonnen, nicht nur auf Reisen
Skizzenbücher zu verwenden, sondern „Von Tag zu Tag“ sich dem
Zeichnen hinzugeben. Die Bücher sind für ihn individuell angefertigt
und zeugen von der täglichen Benutzung.
Horst Peter Schlotter lädt Sie in dieser Ausstellung ein, sich in den
hier präsentierten Beispielen über dieses für ihn so wichtige Medium
zu informieren (vier auf Pulten zum vorsichtigen Durchblättern, andere
in Vitrinen). In den Malerbüchern, so sagt er, habe er alle Freiheiten,
alles darf stehenbleiben, alles ist erlaubt. Manches Motiv hat
Bezug zur Literatur, die er in Form von Textzitaten in die Bildgestaltung
integriert. In manchen finden wir den Künstler im Selbstporträt
wieder. Diese Malerbücher haben den Charakter von Tagebü-
chern und dienen nicht als Vorlagen zur Ideenformulierung für die
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großen Werke. Der Betrachter ist sich der Intimität dieser Bildäußerungen
zumeist nicht bewusst, da Schlotters Darstellungsweise zur
Abstraktion neigt und Gegenständliches nur fragmentarisch erscheint.
Wie auch in den großen Werken wird hier geklebt, übermalt, kombiniert
und viel Spontanes stehengelassen. Irene Ferchl hat in ihrem
Katalogtext zu den Malerbüchern von Horst Peter Schlotter den
schönen Begriff des „inneren Laboratoriums“ gefunden (Kat. Von
Tag zu Tag, Malerbücher 1987-1999, o.S.). Ein Laboratorium ist ein
Ort des Geistes, der Forschung und Entwicklung, ein Ort der permanenten
Suche nach etwas Neuem, nach etwas, das vorangeht. Ein
Ort, an dem experimentiert wird. Und da wären wir beim schwäbischen
Erfindergeist.
Doch halten wir uns besser an die Fakten:
Als Horst Peter Schlotter 1970 an der Staatlichen Akademie der Bildenden
Künste in Stuttgart zu studieren beginnt, geht von dort eine
besondere Außenwirkung aus. Die Beiträge von Georg Karl Pfahler
und Thomas Lenk zur Biennale von Venedig 1970 bildeten sozusagen
den Höhepunkt avantgardistischer Kunst aus Schwaben in dieser
Zeit (Ursula Zeller in: Kat. Impuls Südwest, Stuttgart – Die goldenen
Jahre, S. 37). Beide hatten sie ihre Anfänge im Informel, jener
internationalen Kunstrichtung, die auf formale und kompositorische
Regeln verzichtet und sich im spontanen Malakt artikuliert.
Schlotter studierte in Stuttgart bei den Professoren Peter Grau
(geb. 1828) und Gunter Böhmer (1911-86), die beide gegenständlich
arbeiteten. Grau, wenngleich nicht in der Abstraktion beheimatet,
hat für sein Werk durch seinen Lehrer Willi Baumeister viele Anregungen
erhalten, etwas, was er wiederum an seine Schüler weitergegeben
hat, wie z. B. Augen für die Komposition der Dinge, Erkenntnisse
von Spannungen einer Fläche, den Blick für einzelne
Formen in einem Bildgefüge und die Ablehnung symmetrischer
Kompositionen – all das auch Kennzeichen von Schlotters Werk.
Und bei Gunter Böhmer, so der Künstler, habe er das Zeichnen als
unverzichtbares künstlerisches Medium gelernt.
Betrachten wir Horst Peter Schlotters Arbeiten auf Papier, so wird
deutlich, dass sie ebenso vielschichtig sind wie seine Malerei und oft
auch mit denselben Malmitteln entstehen. Gearbeitet wird mit Pigment
und Acryl. Auf Papier verwendet Schlotter auch Ölfarbe oder
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Wachs, die durch ihren öligen Zusatz auf diesem Untergrund eine
besondere Wirkung erzielen.
PAN, so seine Abkürzung für seine Maltechnik: Der Künstler malt
auf Nessel, nicht Leinwand. P steht für Pigment, A für Acryl, N für
Nessel. Neben reinen Pigmenten werden auch Kohle und Pastellkreiden
vom Künstler pulvrig mit Acrylbinder vermischt, was in den Gemälden
pudrig in Erscheinung tritt. Die Vermischung von Pigmenten
und Acrylbinder zusätzlich mit Wasser erlaubt Ergebnisse, die die
Farbschichten transparent übereinanderstehen lässt.
Horst Peter Schlotter bevorzugte in seinem malerischen Werk bis
etwa 2010 überwiegend die Farbe Gelb in Kombination mit anderen,
meist hellen Farben (Alte Schale“, 2008, Eingang Kapelle), bis ihm
über einen Künstlernachlass ein Glas roter Pigmente in die Hände
fiel. Dieses Chromrot löste eine Veränderung in seiner Farbwahl
aus. Seither beschäftigt sich der Maler mit den unterschiedlichsten
Rottönen. Sein letzter Katalog „Bilder im ersten Jahrzehnt, 2000-
2010“, endet mit diesen leuchtenden, rotgrundigen Werken. Darunter
sind zahlreiche Übermalungen einst gelber Bilder, denen der
Künstler, wie er selbst sagt, „ein rotes Kleid angezogen hat“.
Diese Übermalungen sind auch Teil der heutigen Ausstellung. Exemplarisch
steht dafür die Serie „Char, Fassung Rot“, die auf
gelbgrundige Motive von 2007 zurückgeht (im EG) und im vergangenen
Jahr rot übermalt wurde. In ihr ist auch eines seiner Hauptmotive,
die Schale, dargestellt. Diese für ihn ideale Form, die Halbschale,
kann etwas enthalten, aber auch etwas empfangen. Die gespannte
Rundung, die bei Schlotter zumeist leer ist, dient ihm auch
als eine Art Denkraum und ist damit Sinnbild für Geistiges. Neben
der Schale gibt es in seinem Werk auch das Motiv der Vase, das Samenkorn
und die Kapsel oder den Kokon, ein Gespinst, das etwas
Lebendiges umhüllt. Der damit verbundene Gedanke des Werdens
und Wachsens, der Entwicklung und des Fortgangs stehen bei
Schlotter auch Motive des Verhüllens, des Überdeckens und zugleich
des Geheimnisvollen gegenüber.
Ebenso geheimnisvoll wie auch manche Bildtitel beim Lesen erscheinen.
„Nichts ist wie gedacht“ heißt ein großformatiges Bild
aus dem Jahr 2010/11. Das zweiteilige Werk gibt schon über seinen
Titel Rätsel auf, was darin ist „nicht wie gedacht?“. Den Vordergrund
markiert eine sehr schmale weiße Fläche – ein Tisch viel-
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leicht? Darauf befindet sich in der rechten Bildhälfte eine große leere
Schale, in grau-schwarzen und blauen Farben gemalt, unter denen
ein helles Gelb noch leicht hervorscheint. Links vom unteren
Bildrand aus erhebt sich kerzengerade ein dünner Ast, unter dem
weitere, übermalte, pflanzliche Strukturen erkennbar sind. Der Hintergrund,
fast den gesamten Bildraum umfassend, wurde in kräftigem
Rot großflächig gestaltet, jedoch so, dass das dort ebenfalls
Darunterliegende noch leicht sichtbar geblieben ist. Im linken Bildteil
schwebt neben der linearen Astform die Büste einer dunkelhäutigen
Frau ägyptischer Abstammung. Davor befindet sich eine
große, geöffnete, organische Form, aus der mehrere linsenförmige
blau-grüne Gebilde emporsteigen. Im rechten Bildteil sitzt über der
großen Schale eine mittelgroße gelbliche Gestalt von amorpher
Form sowie darunter eine kleine blaue Nadel, die sich entweder aus
der Schale heraus oder in sie hinein zu bewegen scheint. Dieses
Werk von Horst Peter Schlotter vereint in seiner Bedeutung allumfassende
Formen: die Samen als Keimlinge, die Pflanze, die daraus
erwächst, die Schale als Gefäß, das empfangen kann, aber auch abgibt
und nährt. Bleibt die Büste der Ägypterin – ein Sinnbild für
Schönheit und Kultur?
Hinzu tritt die Wirkung der Farbe Rot, die laut Wassily Kandinsky
(1866-1944) den seelischen Ausdruck von Kraft und Tiefe sowie Assoziationen
von Wärme, Lebendigkeit und Grenzenlosigkeit, aber
auch Unruhe in sich birgt. „Das Rot ist sehr reich und verschieden
in der materiellen Form“, heißt es in seiner Abhandlung „Über das
Geistige in der Kunst“ (Ausgabe 1952, S. 99). „Man denke nur: Saturnrot,
Zinnoberrot, Englischrot, Krapplack, vom hellsten in die
dunkelsten Töne.“ Damit verbundene Gefühlsbeschreibungen könnten
sein: Kraft, Energie, Streben, Entschlossenheit, Freude, Triumph
usw. (ebenda).
Sehen Sie selbst, wie unterschiedlich die verschiedenen Rottöne in
Schlotters Bildern wirken, z.B. in „Nandi (Eines zum Anderen)“
(2012), eine Komposition mit einem altertümlich wirkenden Gefäß
und einer rundlichen vegetabilen Form aus der Algenartige grüne
Bänder emporsteigen. Hierzu ließ er sich beim Hören eines Musikstück
von Rabih Abou-Khalil (libanesischer Komponist und Jazzmusiker)
anregen.
Oder in dem ebenfalls querformatigen Gemälde „Denkstelle“
(2016), in dessen Zentrum ein kreisförmiges, an einen Schädel er-
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innerndes Element vorkommt, aus dessen linker Seite ein menschlicher
Kopf austritt. Oben rechts scheint die in sich strukturierte
Form wie von einem Pfeil durchstoßen zu sein.
Er gehe nicht von den realen Dingen aus, sagt Horst Peter Schlotter
im Gespräch, ganz im Gegenteil, störe es ihn, wenn er weiß, was es
ist. Ebenso komme das Wort – gemeint der anschließend formulierte
Titel – immer erst nach dem Bild. Die Poesie, die die realen Versatzstücke
in seinen Bildern ausstrahlen, entwickeln sie in der Gegenüberstellung
mit den anderen Dingen im Bild. Schlotter lässt die
Bedeutung seiner Motive in der Schwebe, ihm reicht die bloße Anmutung,
das gefühlsmäßige, unbestimmte Eindruckserlebnis, was
eine Faszination auf ihn ausübt. Dass daraus ein Bild mit dem Titel
„In Stücken in der Zeit treiben“ (2016) entstehen kann, erschließt
sich folgerichtig. Weniger schlüssig mag für den Betrachter
zunächst die Darstellung mehrerer blauer Schalen in diesem Bild
sein. Sie stehen eng zusammen, zwei von ihnen sind in weißlichen
Farben wiedergegeben. Die Ansammlung hat etwas Zufälliges, das,
was sich gerade zusammengefunden hat, kann im gleichen Moment
wieder auseinandergehen. Alles ist im Fluss und treibt in Stücken in
der Zeit, könnte man philosophieren. Meint der Künstler damit vielleicht
die Unvollständigkeit alles Seins?
An dieser Stelle sei der Hinweis auf den Surrealismus erlaubt. Und
damit der Bogen zurück auch zu den Werken auf Papier. Hier in
Crailsheim zeigt Schlotter Beispiele aus den Serien „Le Grand Juste“
(2014), „Capriccio“ (2013/14), „Stolen Images“ oder „Spur
erschöpfter Dinge“. Zu letzterer wurde er von der surrealen Poesie
Paul Éluards (1895-1952) angeregt. In der Tradition der papiers
collés verwendet der Künstler in diesen grafischen Serien gefundene
Bilder, die als kunstfremdes Material Einzug ins Werk finden,
dort aber durch die Eingriffe des Malers in einen neuen Zusammenhang
gebracht werden. Er fühle sich manchmal Max Ernst nahe, erklärt
Schlotter und nimmt damit Bezug auf dessen besondere Collagetechnik,
aber auch auf die bisweilen surrealen Wirkungen seiner
Papierarbeiten. Dass die Dinge in ihnen erschöpft sind, ist so zu
verstehen: in ihrer einstigen Verwendung dienten sie einem Zweck.
Hier nun wurde ihnen durch den Künstler ein weiterer, anderer zugewiesen.
Durch die künstlerischen Veränderungen sind sie ihrer
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ursprünglichen Bedeutung entrissen – ihre Spur geht verloren und
hat sich erschöpft.
Max Ernst (1891-1976) soll darüber gesagt haben: „Die CollageTechnik
ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder
künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden
Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten
Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung
überspringt.“
Wenn Sie jetzt der Meinung sind, diesen Gedanken an dieser Stelle
nicht mehr weiterspinnen zu wollen, darf ich Sie an den Künstler
selbst verweisen und Ihnen noch ein letztes Zitat eines Vertreters
des Abstrakten Expressionismus, Sam Francis (1923-1994), mit auf
den Weg geben. Er hat einmal gesagt: „Es gibt genauso viele Bilder
wie Augen zum Sehen“.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute Abend noch einen guten
Blick, den Kunstfreunden Crailsheim Gratulation für diese wunderbare
Präsentation und Horst Peter Schlotter ganz viel Erfolg mit dieser
Ausstellung und natürlich auch darüber hinaus.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
© Dr. Sabine Heilig, Nördlingen, im Februar 2016
„Von Tag zu Tag – aus den Büchern und Bildserien“
Böblinger Kunstverein, kabinett #11
Günter Baumann, 29.03.2015
Von Tag zu Tag – aus den Büchern und Bildserien
H.P. Schlotter
Von Tag zu Tag– aus den Büchern und Bildserien
Böblinger Kunstverein, kabinett #11
Liebe Freunde des Böblinger Kunstvereins, ich freue mich über diese Ausstellung mit Arbeiten von H.P. Schlotter, die dem Titel nach VON TAG ZU TAG entstanden sind. Den Künstler muss ich kaum vorstellen: ist er doch ein künstlerisches Urgestein im Landkreis. Ich darf euch und dich, lieber Peter, herzlich begrüßen und wünsche mir, dass so viele Besucher wie heute auch während der Ausstellung auch von Tag zu Tag hierher den Weg finden – die Bilder haben es verdient. Ob wir den Rekord erzielen, bleibt offen, aber immerhin können wir einen Superlativ verzeichnen: Es sind genau 70 Positionen zu sehen – das Kabinett ist in allen Ausstellungen für eine Überraschung gut. Nun wäre es aber schlecht bestellt, wenn es um die pure Menge ginge. Nein, es geht entschieden auch um das Niveau – und lasst mich ein wenig schwärmen: es ist eine zauberhafte, dichte, stimmige Schau geworden, wie sie besser nicht sein könnte. Möglicherweise ist sie sogar überraschend: Das ureigene Thema von H. P. Schlotter, die Korrelationschiffren Kopf und Gefäß, taucht in den Arbeiten hier zwar als Motiv auf, doch sind die Bücher und ihre Auskopplungen spielerischer, à jour gedacht und noch vielschichtiger. Das gerahmte Buchobjekt (zwischen den Fenstern) kann man als Zitat zum großartigen malerischen Werk sehen, weil die gezeigte Doppelseite gerade auf das Leitthema in Schlotters Schaffen verweist. Eine Handvoll Arbeiten auf Papier variieren das Lieblingsthema unter dem Titel »Gefäß und Kreuz«, eine unauffällige Verbeugung vor Joseph Beuys auf Prospektpapier der Automarke Audi… »Von Tag zu Tag – Aus den Büchern« heißt die neue Ausstellung im Kabinett des Böblinger Kunstvereins. H.P. Schlotter nimmt dies in doppeltem Sinn wörtlich und verknüpft so mit dem optischen wie haptischen Zugang zu seinen Bildtagebüchern eine Weltsicht, die nicht einfach tagespolitische Begebenheiten widerspiegelt, sondern einen Einblick in den bildnerischen Kosmos des Künstlers gewährt, VON TAG ZU TAG. Ich sagte bewusst ›haptisch‹: Für gewöhnlich sollten wir Kunst nicht anfassen – die Bücher laden jedoch ein, darin zu blättern. Wenn ich darum bitte, dies mit Bedacht zu tun, heißt das nicht nur, die Kunst zu schützen, sondern auch, sich auf Entdeckungen gefasst zu machen, die uns nachdenklich machen. Der Titel »Aus den Büchern« bezieht sich konkret auf die Bücher, die Schlotter in meditativer Regelmäßigkeit seit etwa 1980 vorantreibt, zum anderen auf die Auskopplung ganzer Bildserien, die im kleinen wie im großen Format eine Bildsprache entfalten, die sich mal mehr, mal weniger von den zugrunde gelegten Buchinhalten emanzipieren. Die Kunst nimmt bei Schlotter ihren Weg: von der äußeren Welt ins gefühlte Innenleben, wieder nach draußen im neuen Kontext, von dort wieder nach innen usw.
Von Tag zu Tag –mich erinnert dieser Titel an die Reihe »Tag um Tag guter Tag« von Peter Dreher. Der macht etwas ganz anderes, nämlich konstant, unermüdlich ein gewöhnliches Trinkglas malen. Das Motto ist angeregt von einem chinesischen Zen Meister, hat also einen meditativen Hintergrund, der auch für Schlotter wichtig ist – auch wenn er einen anderen Zugang zur kontemplativen Betrachtung sucht: Das Buch legt ihm nahe, sich regelmäßig Zeit zu nehmen, um einen Gedanken, eine Assoziation, eine Reminiszenz (etwa an Oskar Schlemmer), eine konkrete Idee, zuweilen eine bestimmte Begebenheit regelrecht zu Papier zu bringen, mal nüchtern, mal überaus sinnlich. Während sich Dreher in ein Motiv versenkt, das immer in einem gleichen Format auf dieselbe Weise und doch nur ähnlich repetiert wird, setzt sich Schlotter auf der Buchseite eine variierende Größe, die auch mal seitenfüllend sein kann oder sich gar auf eine Doppelseite ausweitet. So entstehen gemalte, gezeichnete oder collagierte Miniaturen oder eben das Buchformat sprengende Bilder. Wie auch immer, die Begrenzung ist wichtig, das Medium ebenso: im Buch erhalten die Bildnotizen Tagebuchcharakter, es erfordert Konzentration auf ein stetiges Werden, und es verlangt dem Maler eine Unbekümmertheit ab, die dem spontanen Geist geschuldet ist – so entsteht naturgemäß eine Kontinuität, wo das Vorige Auswirkungen auf das Nachfolgende hat. Ist ein Ende in Sicht? In Schlotters Regal warten schon die leeren Bücher. Der Weg ist das Ziel. Über die kontinuierliche Spur der Datierung kann der Künstler auch rückwirkend seine Erinnerung kultivieren, was bei Einzelblättern nur bedingt möglich wäre. So eignet sich das Buch darüber hinaus auch als Archiv der Bilder. Das gilt im übertragenen Sinn wie im direkten: Im Atelier von H.P. Schlotter reihen sich wie in einem Foliantenregal zahllose große und auch kleinformatige Bücher aneinander, Themenbände kommen hinzu. Das ist eine Welt, die sich hier seit etwa einem Vierteljahrhundert entfaltet hat –stellt euch vor, dass er im Jahr bis zu zwei Bände à 80, 90 Seiten füllt. Wenn man bedenkt, dass all diese Seiten der hier präsentierten Buchauswahl Einzelarbeiten sind, muss ich die hohe Zahl von 70 Exponaten, die ich eingangs erwähnte, noch um einiges hochrechnen. Die oftmals literarischen Texte, die sich zuweilen auf den Blättern zeigen, machen deutlich, dass H.P. Schlotter sich gern bestimmter Autoren bedient: Paul Eluard, Friedrich Hölderlin, Fernando Pessoa, Sloterdijk u.a.m., begleitet von Sprüchen aus der Werbung oder aus Nachrichtensendungen. Die Faszination all dieser Bilder liegt für mich in der fulminanten malerischen Qualität und in der Raffinesse, allein aus der Farbe heraus Räume zu schaffen, in der die wundersame Dingwelt Platz findet. Nebenbei bemerkt: Dass Schlotter auch ein großartiger Zeichner ist, lässt sich an etlichen linearen Arbeiten in den Büchern ablesen.
Ich habe vorhin erwähnt, dass der Künstler, von den Büchern ausgehend, eigene Serien aus den Büchern heraus abkoppelt. Eine der Serien nennt der Maler frei nach den gleichnamigen Fragmenten Paul Eluards »Les petits justes«, die kleinen Gerechten. Diese handlichen Formate wären allesamt auch in den Büchern direkt vorstellbar. Schlotter thematisiert in diesen komplexen Bildsystemen sinnfällig und vieldeutig die Erinnerungskultur sowie die seismografischen Verwerfungen der Außenwelt, die allenfalls über signifikante Details ahnbar sind. Für mich ist die poetische Kraft enorm, sodass man die dargestellten Dinge schon gespürt hat, bevor man sie sehen kann – wenn sie sich denn überhaupt zu erkennen geben. »Ich bin wie jemand«, so schreibt Pessoa, »der auf gut Glück sucht und nicht weiß, wo der Gegenstand steckt, von dem ihm niemand gesagt hat, wer er ist.«
Eine weitere Serie heißt sogar wörtlich »Aus den Büchern«, weil Schlotter hier wirkliche Seiten aus den Büchern scannt, vergrößert, übermalt, um so völlig neue Wahrnehmungsfelder zu erschließen. Hier spielt er mit den Wirkungen von Produktion und Reproduktion, Vision und Vorlage, Original und Kopie. Seine Collagen und Übermalungen nennt er in anderen Bildreihen dieses kontextuellen Umfelds auch selbstbewusst »Stolen 3 Images«, wohl wissend, dass unsere Wahrnehmung sich instinktiv bekannter Bildmuster bedient, um das Neue verorten zu können. Mit der offenherzigen Bezeichnung will Schlotter zeigen, dass Kunst allgemein aus dem riesigen Fundus ihrer Geschichte schöpft. Einige der Arbeiten, die ihr hier seht, nutzen Musterblätter bzw. biologische Schautafeln aus schulischen Massendruckwerken, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in hohen Auflagen kursierten, um sie in einem neuen, surrealen Zusammenhang neu zu erfinden.
In einer anderen Serie berührt er konsequent die gedanklich freie Assoziationswelt des Surrealismus, im Sinne eines Max Ernst: In malerisch verfremdeten, geheimnisvoll monochromen und auf nahezu irritierend konkrete Weise figurativen Bildcollagen erkennt man H.P. Schlotters unbändiges Vergnügen, antiquarische Reproduktionsstiche Alter Meister in ganz frischen, teilweise frechen und immer gegenwärtigen Miniaturen zu verarbeiten. »Wie zur Zeit der Wunder« nennt er diese Capriccios eines sprühenden Geistes. In den Miniaturen macht Schlotter deutlich, dass er keine Außenwelt nachbilden möchte, sondern die – fast will man sagen – romantische Idee verfolgt, eine parallele Welt auf Augenhöhe der Wirklichkeit zu erschaffen. Es ist egal, ob wir in diesen kleinen Arbeiten eine Vorlage etwa eines Dürerstiches oder einer kunsthistorisch nachprüfbaren Landschaft erkennen oder nicht, im Gegenteil: Erst wenn wir uns freimachen von einer irgendwie vorliegenden Motivik, begreifen wir die Werke H.P. Schlotters als phantasiestrotzende Fiktionen, die absolut glaubhaft Vorgänge und Situationen in unserem Inneren wiederspiegeln. Dabei geht jedes Einzelbild als Pars pro toto für das Gesamtwerk durch, als Bruchstücke einer großen Melancholie. Hier schließt sich der Kreis zu den Büchern, von denen ich ausgegangen bin. Auf einer Buchseite, die eine zeichnerische Studie mit kuriosen Motiven zeigt, hat der Künstler mit schwäbischem Humor darüber geschrieben: »was isch denn dees, was hab i denn do gsäh«. So sollten wir diese wunderbaren Kopfgeburten auch mit einem Schuss Ironie, ja Selbstironie betrachten. Denn wie sagt unser guter Friedrich Schiller: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst. H.P. Schlotter macht sich mit grenzenloser Neugier auf Entdeckungsreisen, an denen er uns teilhaben lässt. Zugleich hat er eine ungeheure Lust, die gesehenen Dinge zu verrätseln.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Günter Baumann, März 2015
„Innehalten“
Dr. Tobias Wall, Burg Kalteneck
Holzgerlingen, 26.04.2014
Innehalten
Innehalten
Holzgerlingen, 26. April 2014
Vorbesichtigung Ausstellung Schlotter. Ich kam direkt von der Autobahn. Monsterstau auf der Gegenfahrbahn. Im Radio zählten Sie, dass der Goldpreis wieder nach unten gegangen ist und dass man sich keine Sorgen um die Gasversorgung aus Russland machen sollte. In Syrien hatten sie wieder Giftgas eingesetzt. Von rechts überholt mich ein Audi Cabriolet. „Idiot“, denke ich. Vor mir ein Lastwagen mit Bauschutt. Der nächste Ausstellung Flyer, geht mir durch den Kopf, ich muss unbedingt noch die Grafiker kontaktieren. Rücksprache mit der Druckerei. Ich versuche die Termine beim Fahren in mein Smartphone rein zu tippen. Verfluchte Autokorrektur. Rote Ampel. Nach links. Holzgerlingen Stadtmitte. Einkaufszentren. Beauty Nails and More. Die Straße hinunter, die Häuser werden immer kleiner. Fachwerk. Dann das kleine Schild „Burg Kalteneck“. Ich finde einen Parkplatz. Vor mir steht das Wasserschlösschen mit roten Fensterläden umgeben von frischen Gärten, einem Wassergraben. Ich bin etwas zu früh dran. Stelle mich auf die Brücke und blicke ins Wasser. Ein Schwan direkt unter mir. Reglos. Weiter draußen Karpfen, die ihre Bahnen ziehen und das Maul bedächtig über die Wasseroberfläche recken. Leiser nun das Geräusch der Stadt. Es wird ruhig um mich und ihn mir. Innehalten. Wie passend, dass Peter Schlotter an diesem schönen, beruhigenden Ort eine Ausstellung zeigt, der er den Titel „Innehalten“ gibt. Ja, man hält inne, wenn man hier eintritt, in die lichten, hübsch verwinkelten Räumen hier in Schloss Kalteneck. Und man spürt gleich, dass sich der Künstler Schlotter, dass sich seine Kunst in diesen Räumen wohlfühlt. HP Schlotter – Innehalten- Holzgerlingen 2014 2 Es war vor einigen Monaten bei der Vernissage eines Künstlerkollegen hier in Holzgerlingen, als Schlotter beim Eintreten freudig ausrief: „Das sind ja tolle Räume. Hier will ich auch mal ausstellen.“ Das wiederum hörte Frau BINDER?…, die Horst Peter Schlotter prompt einlud, die Ausstellungsräume des Schlosses zu bespielen. Und wie man sieht, hat sie den richtigen angesprochen. Im Kunstbetrieb des Südwestens ist Horst-Peter Schlotter eine feste Größe. Er studierte in Stuttgart und Exeter und ist seit den 70er Jahren mit Ausstellungen und Publikationen in Baden-Württemberg permanent präsent. Die Liste seiner Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen, ist lang, zu lang, dass man hier ins Detail gehen könnte. Sie finden sie auf HP Schlotters ausführlicher Homepage. Die Werkauswahl, die Schlotter für Holzgerlingen getroffen hat, nennt er im Untertitel selbst „Bilder und Bildtagebücher“. Er zeigt Zeichnung, Malerei, Kollagen, Übermalungen, vor allem aber lässt er uns in seine künstlerischen Tagebücher blicken. Ich muss zugeben, dass diese Tagebücher mich ganz besonders anzogen. Klar, Tagebücher sind normalerweise geheim, verschlossen, privat. Um so größer die Neugier, die Schaulust. Mutig, dass sich ein Künstler so tief in die Karten schauen läßt. Also fröhlich hineingeblättert. Und ich darf sagen, ich fand einen schier unglaublichen Schatz an Bildern, keinesfalls nur Skizzen, im Gegenteil: Jedes Bild durchgearbeitet, jedes ein kleines Werk. Und kein Blatt gleicht dem anderen, jeden Tag ein neues Motiv, eine neue Bildidee, mal gezeichnet, mal gemalt, auch Fotografien sind darunter. Manches ist gegenständlich ausformuliert, anderes ganz abstrakt oder informell. Oft finden sich kleine Texte und Bemerkungen, mit denen Schlotter die Bilder begleitet, einige sind näher andere ferner vom Motiv. Diese wundervollen Bücher sind die Ergebnisse jahrelangen konsequenten Arbeitens. Jeden Tag setzt sich der Künstler vor ein HP Schlotter – Innehalten- Holzgerlingen 2014 3 weißes Blatt und stoppt, wie er sagt, den ständigen Fluss der Bilder, Motive und Gedanken, die durch ihn hindurchgehen und führt sie in einem bildnerischen Moment zusammen. Diese Blätter entstehen ganz ohne Plan und Ambition, manchmal weiß er selbst nicht woher sie kommen. Bei den Tagebuchbildern ist das Ziel nicht die große Kunst, wie Schlotter sagt, sondern… es gibt kein Ziel. Bei unserem gemeinsamen Gang durch die Ausstellung nannte er diese Bilder seine „täglichen Ausscheidungen“. Ich bin mir nicht sicher, ob mir dieser Ausdruck behagt als Beschreibung für diese kleinen, feinen Werke. Aber ich verstehe, was der Schlotter damit meint. Sie ergeben sich wie in einem täglichen Stoffwechsel, allerdings einem künstlerischen, geistigen. Die Tagebücher sind eine Ansammlung von Bewußtseinsstandbildern oder auch Unterbewußtseinsstandbilder, ein tägliches Räumen, ein tägliches Träumen, ein tägliches Innehalten. Wer jedoch von diesen Bildern Klarheit über das bildnerische Bewußtsein von HP Schlotter erhofft, wird enttäuscht. Das meiste, was man beim Durchblättern erblickt, bleibt rätselhaft, von einer hintergründigen, manchmal auch dunklen Unverständlichkeit. Rätsel begleiten den Betrachter auch bei der Serie kleinformatiger Arbeiten im anschließenden Raum, sie trägt den Titel „Les Petites Justes“. Es handelt sich um behutsam zusammengefügte Kollagen aus Zeitungsbildern (meist aus dem Zeitmagazin) und anderem Papiermaterial, die Schlotter übermalt oder zeichnerisch überarbeitet. Wo die Bildebene der Fotos aufhört und die der künstlerischen Eingriffs beginnt, bleibt meist unklar. Schlotter sorgt dafür, dass man bei diesen Blättern nicht weiß, woran oder worin man ist. Man blickt in ungeklärte Räume mit gegenständlichen Andeutungen und Motiven, die sich allerdings nie eindeutig fassen lassen. Man sieht z.B. ein Auge, das vor einem Haus aus dem Spalt eines Berges erblüht, einen Knopf, mit dem ein Ort vernäht ist, ein Fernrohr, das zur magischen Stehle wird, man sieht HP Schlotter – Innehalten- Holzgerlingen 2014 4 sonderbare Planeten Kugeln, Gefäße, verschattete, verspiegelte menschliche Figuren vor Himmelblau. Was soll das alles, woher kommen diese Bilder, wohin wollen sie uns führen? „Les petites justes“. Schlotter fand den Titel dieser Serie in einem Gedicht des surrealistischen Autors Paul ÉLUARD. Man könnte ihn mit „die trefflichen Kleinen“ oder auch mit „Die trefflichen Kleinigkeiten“ übersetzten. Ja, sie sind trefflich, diese kleinen Arbeiten, stimmig und schön, jedoch behalten sie immer ihr Rätsel. Sie sind trefflich, ohne dass man heraus bekommt, was genau getroffen wird. Aber ich kann Sie trösten: Mit dieser Ratlosigkeit steht man als Betrachter nicht allein da. Schlotter verriet mir, dass er selbst oft selbst nicht weiß was seine „petite Justes“ sollen, was sie wollen, wie auch bei seinen Tagebüchern Es sind keine bewussten Zusammenstellungen von Bildelementen durch den Künstler. Die Bilder, sagt er, entstehen vielmehr von selbst. Schlotter legt Fotos, die ihm ins Auge gefallen, neben und übereinander, schiebt, schichtet, kombiniert und wartet, bis sie einander antworten, bis eine Stimmung entsteht, eine Art Bildraunen, aus Ahnungen und Anklängen. Diese nimmt er dann auf mit malerischen oder gezeichneten Eingriffen, Kommentaren oder Störungen, und führt sie fort, irgendwo hin, solange bis das neue Bild sich gefunden hat. Manchmal ist das Ergebnis so gelungen, dass er in ein großes Format übersetzt und aus einem „petit just“ ein „grand juste“ werden läßt. Ein Beispiel hierfür, eine sonderbare fliegende Tonne mit Leiterzustieg vor schlotterblauem Hintergrund sehen Sie im hinteren Ausstellungsraum. Das Unbewußte, das Unterbewußte mag bei diesem Rätselräumen eine Rolle spielen, wie auch in der Kunst der Surrealisten, auf die er sich dem Titel seiner Serie bezieht. Schlotter bekennt sich frank und frei zu seiner Vereehrung für die Surrealisten, vor allem für Max Ernst und er hat nichts dagegen, wenn seine „Petites Justes“ in der Tradition HP Schlotter – Innehalten- Holzgerlingen 2014 5 von Ernsts Kollagen gelesen werden. Diese Bezüge zum Surrealismus wurden bei einer Ausstellungseröffnung im vergangenen Jahr von Jörg Scheller vortrefflich ausgeführt, so dass ich hier nicht weiter darauf eingehen werde. Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen: Bei den „Petite Justes“ tritt in meinen Augen ein Schaffensprinzip zu Tage, das grundlegend für das gesamte Werk Schlotters ist und uns letztlich zum Titel der Ausstellung zurückführt. Worauf es bei Schlotter ankommt, ist nicht primär die Fähigkeit des Künstlers, „zu machen“, sondern vor allem seine Fähigkeit „nicht zu machen“, d.h. „geschehen zu lassen.“ Die Werke entstehen nicht nur aus dem Prinzip des Kreierens, d.h. aus der künstlerischen Aktivität sondern mehr noch aus einer sensiblen Passivität, einer Aufmerksamkeit und sie können nur gelingen: im Innehalten. Diesen Zustand aktiver Passivität bzw. passiver Aktivität im künstlerischen Schaffensprozess versucht Schlotter bei seiner Werkreihe der Capriccios im nächsten Raum möglichst direkt auszuleben. Er wollte Bilder schaffen, bei denen er „möglichst wenig macht“, „Das Problem der Künstler nämlich ist“, sagt Schlotter, „dass sie meist zu viel machen. Mich eingeschlossen,“ So grundierte er zunächst eine Reihe von Blättern großzügig mit leuchtend rotem Pigment. Dabei kam es ihm nicht darauf an, eine homogene Oberfläche zu erzeugen, vielmehr sollte das Eigenleben des Auftrags und des Materials sichtbar bleiben. Das Pigment stammt aus alten Malerbeständen und ist mit Kaliumdicromat versetzt, einem Stoff, der zu unberechenbaren goldschimmernden Stellen auf dem Rot führt. Auf diesen changierenden Untergrund arbeitete er dann spontan, direkt mit Kohle, Pinsel, Farbe, lustvoll, impulsiv, volles Tempo. Jedes Werk aus einem einzigen spannungsvollen Schaffensschwung. HP Schlotter – Innehalten- Holzgerlingen 2014 6 So entstand eine Reihe außergewöhnlich energievoller, unmittelbarer Blätter, bei denen sich zu Schlotters eigener Überraschung immer wieder Formulierungen und Motivtypen einfanden, die für ihn schon in früheren Schaffensperioden wichtig waren, wie die Früchte- oder Schotenmotive. Schlotter gab diesem Zyklus den Namen „Capriccio“. Mit diesem Titel verweist er auf die Launenhaftigkeit dieser Arbeiten. Launenhaftigkeit heißt hier einerseits, dass jedes Werk mit hohem Tempo, quasi aus einer einzigen gestalterischen Laune heraus auf das Blatt geworfen wurde, und andererseits, dass sich hier das Material selbst mit seinen Launen und Unberechenbarkeiten ausleben kann. Als wir uns über seine Arbeit unterhielten fiel mir auf, dass Schlotter in einer außergewöhnlichen Weise über seinen Umgang mit dem künstlerischen Materialien sprach. Schlotter sagt nicht, das er das Material verwende, sondern er sagt, dass er „unterwegs ist mit seinen Materialien.“ Auf seinem Weg wird ihm vom Material etwas zugespielt, das er als Künstler dann im Sinne des Materials weiterspielt. Diese Äußerung führt uns ins Zentrum seines Schaffens: HP Schlotters künstlerisches Arbeiten ist kein Machen im engen Sinne, kein Bearbeiten, Verarbeiten von Material mit einem bestimmten Ziel, es ist kein Konstruieren, kein Produzieren. Für diese Form des zielgerichteten, produzierenden Machens verwendeten die alten Griechen das Wort „techné“. Und diesem technischen Machen stellten sie einen anderen Begriff gegenüber, der auf natürliche Wachstumsprozesse angewendet wird und der in der Übersetzung „hervorbringen“ oder „hervorkommen lassen“ bedeutet. Es ist das Wort Poiesis, Poesie. Und in eben diesem Sinne der Poiesis arbeitet HP Schlotter. Er ist nicht Macher, Techniker sondern Hervorbringer, d.h. Poet in einem ursprünglichen Sinne. In diesem Hervorbringen entstehen Werke, die bei aller Stimmigkeit und Ausgewogenheit eben nicht komponiert sind. Es ist, als würden HP Schlotter – Innehalten- Holzgerlingen 2014 7 sie sich wie von selbst, spielerisch in ihr Gleichgewicht fügen. Freie Spiele sinnlicher Momente, die ihre feine Poesie gerade in ihrer Undurchschaubarkeit entfalten. Diese Poesie aus Fügung, aus einem aufmerksamen „Hervorkommen lassen“ macht für mich das Werk von Peter Schlotter aus. Es zeigt sich in den Tagebuchblättern ebenso, wie in den Petites Justes, den Arbeiten aus der Serie „Zufall und Notwendigkeit“, den Capriccios und seinen Arbeiten auf Nessel. Z.B das Diptychon „Tisch“, dieses große schwerrot leuchtenden Bild, das den Besucher gleich zu Beginn der Ausstellung in Empfang nimmt. Man sieht sonderbare Dinge auf und um einen angedeuteten Tisch, ein Gefäß, eine verhüllte Menschengestalt, von oben ragt ein schmales, graues Objekt ins Bild. Das Rot eröffnet einen mysteriösen, unendlichen Raum. Die Position der Dinge in diesem Raum ist nicht klar zu ermitteln. Nichts liegt, nichts steht verbindlich da und doch hat alles seinen Ort im Bild, es ist wie eine schwebende Momentaufnahme im Fluss der Dinge. „Wann“ fragte ich Schlotter am Ende unseres Gesprächs, „wann weißt Du, ob ein Bild wie der „Tisch“ oder auch eines Deiner „Petites Justes“ fertig ist, wann weist Du, dass Du mit der Bearbeitung aufhören musst? „Nicht ich weiß es“, sagt Schlotter, „das Bild weiß es und es teilt es Dir mit. Ich musst nur aufmerksam sein und dann, wenn es so weit ist, innehalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Tobias Wall
„Les Petits Justes“
Jörg Scheller
Kunstverein Korntal-Münchingen 23.06.2013
Les Petits Justes
Meine Damen und Herren, ich möchte meiner Einführungsrede einige persönliche Bemerkungen voranstellen – was ich sonst eigentlich vermeide, aber heute kann ich tatsächlich nicht umhin. Im Jahr 1998 schloss ich am Gymnasium Korntal den Leistungskurs Kunst ab, wobei mein damaliger Lehrer meine genialische praktische Prüfungsarbeit mit gerade einmal neun Punkten honorierte. Ich nenne (noch) keine Namen. Trotz dieses bis heute unbewältigten Traumas, das mich vermutlich in die Arme der Theorie getrieben hat, blieben wir in Kontakt und trafen uns, gemeinsam mit weiteren Absolvierenden des Leistungskurses, alljährlich um Weihnachten herum bei ihm zuhause im bukolischen Weil der Stadt-Münklingen.
Zu Beginn dieser bis heute andauernden kulinarisch-ästhetischen soiréen ahnte ich nicht, dass ich fünfzehn Jahre später einmal die Gelegenheit haben sollte, eine Einführungsrede zu einer seiner Ausstellungen, die wir schon als Schüler besuchten, zu halten. Nun wendet sich also das Blatt und es ist an mir, über die Arbeiten desjenigen zu sprechen, der Ende der 1990er Jahre über meine Arbeiten urteilte. Aber keine Angst, um eine Revanche geht es hier nicht – trotz der neun Punkte. Im Gegenteil.
Auf die Gefahr hin, als bezahlter Schmeichler oder claqueur zu erscheinen, möchte ich bemerken, dass Horst-Peter Schlotters Kunstunterricht eine Qualität besass, die nicht selbstverständlich war und nicht selbstverständlich ist. Er vermochte es nämlich – wahrscheinlich vermag er es weiterhin–, Subjektivität zu honorieren, wenn sie denn nur konsequent umgesetzt und glaubwürdig kommuniziert wurde. Gleichzeitig vermittelte er bei aller Offenheit auch einen Willen zu Objektivität, Methodik, belastbaren Kriterien – und sparte nicht mit unmissverständlicher Kritik. Man könnte sagen, dass wir uns im Unterricht stets im Grenzgebiet zwischen modernistischer Ernsthaftigkeit und postmoderner, spielerischer Pluralität bewegten. Genau dieses Spannungsverhältnis prägt auch das künstlerische Werk Schlotters. Und damit sind wir denn auch endlich beim Thema.
Sie sehen in dieser Ausstellung kleinformatige Arbeiten HorstPeter Schlotters aus den letzten Jahren, deren Schwerpunkt die Serie „Les Petits Justes“ bildet. Unverkennbar handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des Surrealismus, dessen literarischer Vertreter Paul Éluard mit seinem gleichnamigen Gedicht als Namensgeber der Ausstellung fungiert. Wahlweise als „Die kleinen Gerechten“ oder „Die trefflichen Kleinen“ übersetzt, ist Éluards Gedicht ein Zeugnis der wohl produktivsten und nachhaltigsten Phase des Surrealismus Mitte der 1920er Jahre, als er noch nicht von Salvador Dalí und Konsorten zu einem Lifestyle-Gimmick unter vielen verwandelt worden war. Das Anliegen der Surrealisten der Pioniersgeneration war es, die bürgliche Gesellschaft an jene dunkleren Schichten der menschlichen Psyche zu erinnern, welche im Zuge der lichten, optimistischen, fortschrittsgläubigen Modernisierung um 1900 in Vergessenheit zu geraten drohten. Anknüpfend an Friedrich Nietzsches Zivilisationskritik, Sigmund Freuds Psychoanalyse und den Dadaismus, gaben sie dem Fantastischen, Traumhaften, Unbewussten und Marginalen wieder einen Platz in der Kultur, einen symbolischen zumindest. Andererseits verfassten sie eifrig Manifeste, schufen eine Ästhetik mit hohem Wiedererkennungswert und schlossen Abweichler wie Maxime Alexandre oder eben Dalí aus ihrem Kreis aus. Die Öffnung auf das „Andere“, auf das Subjektive und Fantastische, war offenbar nur durch eine Reinjektion der Objektivität und der Formalisierung möglich.
Wer nun das Schaffen Horst-Peter Schlotters über einen längeren Zeitraum verfolgt hat, der wird sich nicht wundern, dass gerade der Surrealismus in all seiner Janusköpfigkeit immer wieder sein Interesse erregt hat – nebenbei gesagt, steht er damit zur Zeit mitnichten alleine da. In der Hauptausstellung der diesjährigen Venedig Biennale, um nur ein Beispiel zu nennen, räumt der Kurator Masimiliano Gioni dem Surrealismus als einziger unter den kanonischen Strömungen der Klassischen Moderne einen Platz ein.
Die bereits erwähnten Krebsgänge zwischen subjektiver Freiheit und Willen zu Objektivität und manifester Methodik, zwischen Offenheit und definiter Form, die Schlotters Mentalität, Unterricht und Werk kennzeichnen, sind auch für den Surrealismus charakteristisch, und sei es nur nolens volens. Es geht um ein Zulassen, um ein Sicheinlassen auf das „Andere“ oder das vermeintlich Obsolete der Kultur, und gleichzeitig um eine Sublimierung und letztlich um eine ästhetische Formalisierung eben dieses „Anderen“.
In diesem Sinne müssten wir Schlotter präzisierend auf der freudianischen Seite der Surrealismus-Rezeption verorten. Sein Anliegen ist nicht die Freisetzung irrationaler Energien, von der André Breton noch zu träumen wagte, und für deren Apologeten er Sigmund Freud irrtümlicherweise hielt. Die träumerische Stimmung von „Les Petits Justes“ mit ihren dunklen Bühnenräumen und ihren verwunschenen Bildobjekten sehe ich eher als Zeichen dafür, dass für Schlotter kein Gegensatz zwischen der sublimierenden Kultur und dem freien Spiel der Imagination besteht. Sein bisheriges Werk kennzeichnet vielmehr ein kontinuierliches und organisches Verweben dessen, was objektiv gegeben ist, mit dem, was einzig in der Imagination besteht.
Während die Surrealisten in den Nischen der Psyche und der Kultur stöberten und dabei das im Laufe der Fortschrittsgeschichte Verdrängte zutage förderten, durchstreift Schlotter die Nischen des Alltags mit der zerstreuten Aufmerksamkeit des Flaneurs. Auf seinen Streifzügen entdeckt er Dinge, die auf den ersten Blick obsolet oder trivial erscheinen mögen, aber auf den zweiten Blick gerade aufgrund ihrer vordergründigen Einfachheit und ihres Anachronismus eine Zäsur in unserer auf starke Reize fixierten Wahrnehmung darstellen. Oft sind es Dinge, die eine lange Geschichte hinter sich haben – entweder im kultur- und naturhistorischen Sinne, wie etwa die häufig vorkommenden Schalen und Pflanzen, oder wie im Fall des ausgemusterten Biologiebuchs, das in der hier gezeigten „Naturlehre“ eine neue Bestimmung gefunden hat. In dieser Hinsicht wird auch der Bezug zu Paul Éluard noch einmal deutlich. So heisst es im Achten Abschnitt von „Les Petits Justes“:
„Sie weigerte sich immer zu begreifen, zu verstehen, Sie lacht, um sich ihren Schrecken zu verbergen. Immer ist sie durch die Brückenbögen der Nacht gegangen Und überall, wo sie vorüberging, Liess sie Die Spur erschöpfter Dinge zurück.“
Genau dieser Spur folgt Schlotter seit vielen Jahren, wobei „erschöpft“ nicht im negativen Sinne verstanden werden sollte. Für Schlotter typische Werktitel wie „Fundstelle“, „Überreste“, „Tagesreste“ oder „Treibgut“ zeugen von einem künstlerischen Ansatz, der keinen, mit Heidegger gesprochen, „Überfall“ auf die Dinge anstrebt, sondern ein neugieriges Aufgreifen und Weiterspinnen des Gegebenen und Vorhandenen, ein SichEinschreiben und ein Fortschreiben jener oft unscheinbaren Ästhetiken, die immer schon ausserhalb unserer selbst in den Dingen schlummern.
Der Fokus auf Einfachheit und Archaik ist es denn auch, der Schlotters Ästhetik von den spektakuläreren, auf visuelle Überwältigung abzielenden Strömungen des Surrealismus oder Post-Surrealismus unterscheidet, denen wir heute selbst in der Werbung häufig begegnen – aber auch von den einst mit dem Surrealismus verbundenen radikalen Utopien, die André Breton 1924 wie folgt auf den Punkt brachte: „Er [der Surrealismus] zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.“
Schlotters Kunst ist alles, nur kein therapeutisches Dienstleistungsangebot für die Lösung von Lebensproblemen. Wenn ich seine Bilder betrachte, so wecken sie in mir vielmehr eine inhaltsoffene musikalische Assoziation, und zwar Terry Rileys Minimal-Komposition „In C“ von 1964. Es handelt sich um ein semi-aleatorisches, in Besetzung und Länge variables, von subtilen Modulationen und Variationen geprägtes Stück, das sowohl meditative Ruhe wie auch unablässige Veränderung beinhaltet. Motive tauchen auf und gehen unter, Töne pulsieren und verebben, Phrasen sind mal tonal, mal tonal indifferent. Alles ist im Fluss, das Eine führt zum Anderen und das Andere wiederum zum Einen.
Bei Schlotter verhält es sich ähnlich, im Einzel- wie auch im Gesamtwerk. Selbst seine experimentellen Arbeiten mit ihren sich überlagernden Schichten und Strukturen zeichnet eine meditative Ruhe und Buddha-mässige Gelassenheit aus – was sich auch in seiner Liebe zu „Slow Food“ spiegelt. In Schlotters Kunst gibt es folgerichtig keine radikalen Brüche, keine reisserischen Proklamationen, keine Fluchtversuche aus dem Strom der Erscheinungen – wohl aber eine unaufgeregte, konzentrierte Form der stetigen (Selbst)Beobachtung und des kumulativen Experimentierens, die durchaus als bewusst unzeitgemässe Zeitkritik und als Kritik an der Hybris der historischen Avantgarden verstanden werden kann. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hatte schon recht, als er schrieb: „Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen.“ Vor diesem Hintergrund könnten wir Horst-Peter Schlotter als einen genuin evolutionären Künstler bezeichnen – was seine wiederkehrenden Rekurse auf die Bildwelten der Biologie noch einleuchtender erscheinen lässt.
Innerhalb des Spektrums der Biologie aber liegt Schlotters Schwerpunkt klar auf der Botanik. Selten nur begegnen wir Porträts oder Darstellungen des menschlichen Körpers. Und wenn, dann sind sie nur ein Element unter vielen. Es scheint, als denke Schlotter, der als Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung doch eindeutig den Humanisten zuzurechnen ist, den Menschen von seinen systemischen Grenzen, von seiner Umwelt her – nicht zuletzt von den Dingen, die uns umgeben und mit denen wir uns umgeben. Bezeichnend also, dass die Stiftung nicht den emphatischen Humanismus älterer Machart vertritt, sondern das moderne Leitbild eines „evolutionären Humanismus“, der dezidiert naturalistisch ausgerichtet ist.
Mit seiner langjährigen Faszination für Dinge, natürlicher wie archaisch-kultureller Art, und seiner Dezentrierung des Menschenbildes im Bild, hat Schlotter einen Trend antizipiert, der seit den 1990er Jahren die Geisteswissenschaften prägt: das Aufkommen von Theorien, die auch Dinge als Akteure oder wenigstens als sinnstiftende Einheiten per se interpretieren, und so die geläufige Trennung zwischen Natur und Kultur in Frage stellen, am prominentesten wohl in Bruno Latours „ActorNetwork-Theory“. Einen Vorstoss hin zu einer „Ding-Theorie“ – die sich mittlerweile tatsächlich an den Universitäten etabliert hat – machte Walter Benjamin bereits 1916 in seinem Aufsatz „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“: „Was wäre, wenn die Dinge sprechen könnten? Was würden sie uns sagen? Oder sprechen sie schon und wir hören sie bloß nicht? Und wer wird sie übersetzen?“
Für Benjamin gibt es also eine Sprache jenseits der menschlichen Sprache, eine Sprache der unbelebten Dinge und Artefakte, der Pflanzen und der Tiere, eine Sprache jenseits dessen, was der Philosoph Wolfgang Welsch als „anthropisches Prinzip“ der Moderne kritisiert: die einseitige Fokussierung auf den Menschen als vermeintlich privilegiertes, zur Herrschaft über seine Umwelt berufenes und metaphysisch grundiertes und stabilisiertes Wesen. Dahinter verbirgt sich kein Anti-Humanismus, sondern ein Humanismus anderer Art, gewissermassen die zweite „Natur“ des Humanismus. Mir scheint – und vielleicht täusche ich mich ja –, als vertrete Schlotter eine ganz ähnliche Haltung, nur eben mit anderen, mit bildnerischen Mitteln, und fernab jener Esoterik, der etwa der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in seiner BildaktTheorie mitunter verfällt.
So liesse sich abschliessend und zusammenfassend sagen, dass sich in Horst-Peter Schlotters Werk drei Traditionslinien kreuzen und wechselseitig inspirieren: der Humanismus des 16. Jahrhunderts, der Evolutionismus des 19. Jahrhunderts und der Surrealismus des 20. Jahrhunderts. Alle drei kommen in dieser Ausstellung direkt oder indirekt zur Anschauung: der Evolutionismus vertreten durch die Serie „Naturlehre“ und damit als Konsequenz jenes kritischen, wissenschaftlich orientierten Humanismus, welchen der Dominikanermönch Giordano Bruno prägte, und der Surrealismus aus der Serie „Les Petits Justes“ als ein mögliches Korrektiv für die anthropozentrische, rationalitätsgläubige Moderne.
Hybrid
Irene Ferchl
Wendelinskapelle Weil der Stadt, 22.11.2009
Hybrid
„Hybrid oder Eins zum Anderen“ – neue Dimensionen
Horst Peter Schlotters Ausstellung in der Wendelinskapelle, 22. November 2009
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, lieber Peter,
… ein bisschen erstaunt werden einige von Ihnen gewesen sein, als sie die Einladung zu dieser Ausstellung erhielten, ein wenig verwundert über den ernsten Künstler vor einem großformatigen, beinahe überdimensionalen Bild – oder entstieg er vielleicht sogar dieser Szenerie? Grüblerischer, als man ihn kennt, bezieht er Position wie auf einer Bühne, in einer Inszenierung.
Rätselhaft, offen für unterschiedlichste Assoziationen erscheint einem au der Karte auch die gelbe Rundung, in der man je nach individueller Phantasie etwas Schlangenartiges oder einen Elefantenrüssel, etwas Pflanzliches oder Phallisches entdecken kann – Farne entrollen sich ähnlich wie Würmer. Der grün-türkise Bogen konturiert möglicherweise eine Blütenblattform, das länglich-rotschwarze, diffus geöffnete Objekt im Zentrum hingegen könnte einen Fruchtstand andeuten, eine Vulva, den Ursprung der Welt …
Wenigstens die uns aus Schlotters Arbeiten seit längerem wohlvertrauten blauen Teilchen schweben im undurchsichtigen Dunkel links wie rechts im strahlenden Licht.
Das gesamte Triptychon hier an der Chorseite der Kapelle eröffnet weitere Möglichkeiten des Sehens, schon die Größe von 5,50 Metern Länge beeindruckt, ebenso eine Energie, die aus der Wiederholung der zentralen Form erwächst, und natürlich der Farbigkeit. Hier offenbart sich ein größerer künstlerischer Anspruch, ein neues Selbstbewusstsein – das ist kein Wohnzimmerformat, wie es noch die Paarbilder gewesen sind.
„Loop“ hat Horst Peter Schlotter dieses dreiteilige Gemälde genannt, und eine sich überschlagende Schleife könnte man auch tatsächlich erkennen – aber um eindeutige Identifikation geht es ihm nicht, das bemerkt sofort, wer die Augen entlang diesem Fries an den Wänden schweifen lässt.
Gebündelt und gekreuzt, geschichtet und gemischt – Horst Peter Schlotters Hybrid-Bilder überraschen mit neuen geheimnisvollen Formen und leuchtenden Farbkombinationen, erscheinen zugleich aber vertraut; blaue Stücke und biomorphe Teile schweben entgegen den Gesetzen der Schwerkraft, Strukturen durchdringen und überlagern sich, Striche schaffen Räume und der Raum wandelt sich zur Fläche. Spontan meint man, Früchte, Samen, Blüten zu sehen – oder täuscht man sich? Sind es Zellhaufen mit Kernen, Wasserwesen, Insekten, Innereien? Der Künstler nennt diese Werkserien „Naturgeschichte“ und „Aus der Naturlehre“, das klingt seriös, wissenschaftlich und eindeutig.
Sein Seneca-Zitat (im Katalog zur Ausstellung) stellt jedoch gleich wieder alles in Frage, denn die realen Sachverhalte interessieren den Maler der Gegenwart genauso wenig wie den Philosophen vor zwei Jahrtausenden: „Was interessiert mich, was für die Natur gewiss ist, wenn es für mich ungewiss ist.“
Welcher Konflikt deutet sich hier an: einer zwischen Natur und Kultur oder eher der zwischen Natur und Wissenschaft, zwischen Erkenntnis und Wissen, Individuum und Welt?
Gehen wir zuerst einmal kurz dem nach, was gewiss ist, die Naturlehre – obwohl selbst dort Uneinigkeit herrscht und man je nachdem, welche gedruckte oder digitale Quelle (Brockhaus oder Google) befragt wird, Ergebnisse zwischen Chemie, Physik, Landbau, Optik, dem Philosophen Kant und der Popsängerin Björk, Hildegard von Bingen und Leonhart Euler erhält.
Bei Horst Peter Schlotter bedeutet „Aus der Naturlehre“ zunächst eine bestimmte Technik auf der Grundlage eines besonderen Fundes: Diese hier ausgestellten vier großen Bilder – der dreiteilige „Loop“ und die drei zweiteiligen „Hybride“ – basieren auf alten Schautafeln aus dem Biologieunterricht. Die älteren unter uns werden sich an solche noch erinnern – an die ambivalenten Gefühle, anziehend und abschreckend zugleich (ob Derartiges als Folie projiziert oder gebeamt auch so wirkt? Vielleicht.)
Fragmente dieser Lehrtafeln, übrigens perfekte Vorlagen, weil in ungerastertem Siebdruck hergestellt, wurden von Schlotter übermalt, überklebt, gescannt, geplottet und wiederum übermalt. Zu den traditionellen künstlerischen Techniken wie Collagieren und Übermalen kommen die neuen Möglichkeiten des Scannens (kennt inzwischen jeder) und Plottens, des vergrößerten Ausdruckens der Digiprints auf einem Trägermaterial, das „Canvas“ heißt und auch der Leinwandstruktur ähnelt.
Seit vier, fünf Jahren benutzt er diese neue Art der Mischtechnik, entstehend aus mehreren, aufeinander folgenden Arbeitsgängen, die frühere Serie der „Stolen Images“ ist ebenso entstanden – in der Musik würde man von Sampeln sprechen.
Der Begriff „Hybrid“, den Horst Peter Schlotter als Titel von Arbeiten und dieser Ausstellung insgesamt gewählt hat, ist äußerst raffiniert und schillernd, selbst wenn wir die eine, aus dem Griechischen stammende, „überhebliche“ Bedeutung des Wortes gar nicht berücksichtigen: Hybrid (von lateinischem Ursprung) meint: von zweierlei Herkunft, zusammengesetzt aus verschiedenen Teilen, etwas Zwitterhaftes. In der Biologie sind „Hybride“ Züchtungen mit besonderen erwünschten Eigenschaften – vor allem bei Rosen bekannt und verbreitet –; in der Sprachwissenschaft bezeichnet man damit zusammengesetzte Worte, die verschiedenen Sprachen entstammen; in der Mythologie wäre ein Kentaur aus Mann und Pferd gebildet ein Hybride, ein Minotaurus oder eine Wasserfrau; im Fahrzeugbau kombiniert man verschiedene Antriebe, bei Autos aktuell Kreuzungen aus Verbrennungsmaschine und Elektromotor.
Ja, und in der Kunst bedeutet Hybrid ab sofort eine raffinierte Technik mit einer faszinierenden Wirkung!
Ganz neu ist das bei Schlotter jedoch nicht, vor einiger Zeit trug ein Bild schon mal den Titel „Hybrid“ (die „Stolen Images“ von 2004/05 habe ich bereits erwähnt), und wer seine Arbeit seit längerem verfolgt, erinnert sich an frühere Serien wie „Blow ups“ oder „Tilia“ oder die „Nachträge zu Linné“ oder die „Blossfeldt-Variationen“ und einige andere.
Seine Markenzeichen sind seit jeher Schichtungen, Material-Kombinationen und die Verwendung von Gefundenem jeglicher Herkunft: es können Fundstücke im Sinne des Wortes sein, der nackte Vogelschädel aus dem Garten, Samen von Früchten, Schoten, Blätter, Wurzeln; Gegenstände, die sich über die Jahre im Atelier angesammelt haben, in Zeitungen, Zeitschriften gefundene Bilder oder Relikte von Kollegenarbeiten. Diese objet trouvées werden aufgehoben, eingelagert, aufbewahrt, in der Vitrine oder im Kopf und irgendwann tauchen sie dann in seinen Bildern wieder auf.
Wenn Sie die Malertagebücher aufmerksam durchblättern, wird Ihnen auffallen, dass darin Vorlagen, Anfänge, gewissermaßen „Ideenskizzen“, oder auch Werkstattmarginalien auftauchen: beispielsweise gibt es dort eingeklebt sechs von den „Kleinen Stücken“, diesen 10 mal 10 Zentimeter großen Quadraten, die jetzt als Holzobjekte an der Wand hängen, ursprünglich mit dem hübschen Titel „Eine Veränderung ist eine Veränderung ist eine Veränderung“.
Und Sie finden darin eine Reihe von pflanzlichen, tierischen – nennen wir sie vielleicht am einfachsten noch einmal – biomorphen – Formen, die in den zartfarbigen Arbeiten wiederkehren: diese „Zeichen“, „Kräftespiele“, „Veränderungen“ mag ich besonders gern wegen ihrer rätselhaften, transparenten Wirkung: wunderbare Palimpseste ergibt das, durch auf dem Print aufgetragenes Pigment unter der Wachsschicht.
(Der Begriff zieht sich auch schon lange durch: Palimpseste, wie die mehrmals überschriebenen und in ihren Schichten geheimnisvolle, unentschlüsselbare Aussagen bergenden Schriftstücke der Antike und des Mittelalters.)
Diese Serie nennt Schlotter „Aus der Naturgeschichte“, was einerseits auf die Herkunft der Schautafeln, andererseits auf Max Ernsts „Histoire naturelle“ anspielt: Es ist eine Hommage an den – wie ich finde – spannendsten Protagonisten der Surrealisten.
Wir haben dieser Tage über Zeitgeist und Moden und Wiederentdeckungen gesprochen, Horst Peter Schlotter meinte, er hätte sich schon gern zum Surrealismus bekannt, aber da dachten immer alle nur an Dali oder Magritte, wohingegen Max Ernst ungleich spannender ist, ein Grenzgänger ja auch, dieser Dada-Max, der früh, vielleicht als erster, Frottage und Collage-Techniken verwandte, in dem Vorhandenen, Gefundenen Anderes entdeckte und immer neue Welten aus eigentlich längst Bekanntem geschaffen hat. Dieses Faible für Ambivalenz, für allerlei Interpretation offene Darstellungen und solch eine skeptische Ironie besitzt auch Horst Peter Schlotter, zudem eine Neugier auf alles, was da in Bild und Wort auftaucht und: eine ungeheure spielerisch Lust, damit etwas anzufangen.
Zurück noch einmal kurz zu den Malertagebüchern, die vielleicht nicht alle von Ihnen bereits kennen.
Seit 1979, also seit 30 Jahren, füllt Horst Peter Schlotter jährlich ein bis zwei dieser etwa 80 bis 90seitigen Bücher, die eigens für ihn, nach seinen Bedürfnissen (von Susanne Neuner) angefertigt werden. Der graue, stabile Karton, die schwarzen Leinenecken, die selten und dann eher kryptisch bemalten oder beschriebenen Umschläge, aber auch die Farb- und Gebrauchsspuren kennzeichnen diese Künstler-Tagebücher, angereichert mit gemaltem, gezeichnetem, geklebtem Leben.
Sie bilden die Chronik seines Schaffens, Seite folgt auf Seite, wie Tag auf Tag, und fixiert das Vergehen der Zeit ebenso, wie sich darin das Schaffen in einem bestimmten Lebensabschnitt dokumentiert. Momentaufnahmen erhalten trotz ihrer eher zufälligen Abfolge im Nachhinein eine logische Konsequenz, addieren sich zu einem Ganzen, einem Archiv der Erinnerungen.
Fundstücke jeglicher Art finden darin Eingang: Das sind vor allem ausgeschnittene Fotografien aus Zeitungen oder Zeitschriften, Details von Fotokopien, Seiten vom Andruck des neuen Katalogs oder der Probedruck der letzten Radierung, also gesammeltes Bildmaterial, das tagesaktuell verwendet wird oder aus dem Fundus stammt, der um und umgeschichtet im richtigen Moment und Kontext das passende Stück offenbart. Das sind aber auch Pergament, Folien und Papiere, deren Transparenz oder haptische Anmutung den Künstler stimuliert; Polaroids, bei denen er die Trägerschicht abgelöst hat, Röntgenbilder von einem Besuch im Krankenhaus, Souvenirs wie Marmorsand von der Reise nach Carrara oder Asche aus dem Garten oder Cochenille, der rote Farbstoff aus Läuseblut (vermischt mit eigenem Blut, das bei der Jagd danach floss) – also objets trouvés im Sinne des Wortes.
Für einen Künstler mit einer solch großen Aufmerksamkeit auf die Welt wie Horst Peter Schlotter wird es immer neues Material geben, wird Kreativität durch die abseitigsten, winzigen-übersehenen, kuriosen Fundstücke ausgelöst, werden Ideen aus den unterschiedlichsten Anregungen, aus botanischen oder zoologischen Rätseln, geboren.
Da führt uns zurück zum Seneca-Zitat: „Was interessiert mich, was für die Natur gewiss ist, wenn es für mich ungewiss ist.“
Senecas, des Stoikers, philosophische Erkenntnis könnte man vorsichtig (für die sonntägliche Matinee) vielleicht so zusammenfassen: als Vernunftwesen in Entsprechung mit den Gesetzen der Natur zu leben. Also: Befreit vom Alltag, der Forderung der Dinge, ein Leben in Ruhe und Gelassenheit zu führen.
Nicht grüblerisch tritt Horst Peter Schlotter also vor die Bühne seiner neuesten Arbeiten, sondern gelassen und vielleicht auch zufrieden mit dem, was er in den letzten Monaten geschaffen hat, Großes und Kleines, Eins kam zum Andern, die Hybride sind gelungen, neue Dimensionen erreicht.© Irene Ferchl, November 2009
Malerei aus reiner Lust
Dr.Tobias Wall, Galerie Kunsthöfle
Stuttgart Bad-Cannstatt 26.9.2008
Malerei aus reiner Lust
Horst Peter Schlotter Galerie im Kunsthöfle Bad Cannstatt 26.9.2008 H.P. Schlotter Malerei aus reiner Lust Warum eigentlich abstrakte Malerei? Was veranlasst Künstler dazu, sich vom Gegenstand zu entfernen und sich ganz der reinen Farbe und Form zu widmen? Ganz einfach, weil die Farbe und deren Fassung in kunstreichen Formen genau das ist, was jedes Bild ausmacht. Es ist die Essenz der Malerei und zwar nicht nur bei abstrakten sondern auch bei gegenständlichen Bildern. Im Grunde wäre es viel nahe liegender zu fragen, warum es überhaupt gegenständliche Kunst gibt. Warum sollte man irgendwelche Dinge nachmalen, die doch nie schöner und wahrer sein können als in der Natur? Diese Frage hat sich z.B. Platon schon gestellt. Die Antwort ist auch hier: weil man am Gegenstand die Macht der Farbe und die Kraft der Form ausprobieren kann. Denken Sie nur an die wundervollen Stilleben der Meister des 17. Jahrhunderts, Wilhelm Kalf oder Georg Flegel: Die Maler wählten mit Vorliebe besonders kostbare, sinnlich ansprechende Sujets: goldene Gefäße, Gläser, Früchte, Gebäck. Ihre Auswahl trafen sie zwar wegen des Symbolgehalts der jeweiligen Dinge (Vergänglichkeit etc.), vor allem aber, um den Reiz des dargestellten Materials, sein Glänzen, sein Leuchten, sein Schimmern zu zeigen: Das changierende Gold des Pokals, die lustvolle Röte des geöffneten Granatapfels. Alles meisterlich in Form gebrachte Farbe. Man sieht, dass diese vielleicht gegenständlichste Malerei des Stillebens und die abstrakte Malerei eine große Gemeinsamkeit haben: Es ist Malerei aus Lust an Form und Farbe. Ich finde, dass dieses Lustprinzip bei den Bildern, die Peter Schlotter hier im Kunsthöfle zeigt, auf Anhieb spürbar ist: Die Lust an der Farbe, die Freude am Komponieren, am Choreografieren der Formen. Es fällt zunächst die machtvolle Farbigkeit seiner Bilder auf. Das Rot der großformatigen Malereien hier im Hauptraum. Satt ist es, übersatt, so kraftvoll, dass es sich aus der Leinwand herauszuwölben scheint. Und diese Kraft ist gefasst in sonderbaren, großen organischen Formen, die sich wie aus sich selbst zu entwickeln scheinen, nicht gegenständlich aber auch nicht völlig abstrakt. Man fühlt sich an Früchte oder Blütenkelche erinnert, Riesenknospen oder aber an schon abgestorbene Pflanzenteile. Es könnten aber auch in sich verschlungene Menschenleiber sein. Die Erinnerung an Pflanzenwerk kommt nicht von ungefähr: Schlotter nennt die Bilderreihe „Nachtrag zu Linné. Er will der Pflanzensystematik des großen schwedischen Forschers offenbar noch etwas Eigenes hinzufügen. Der Maler als Kreator, selbstbewusst, romantisch, frei. Wie kommt es zu der malerischen Wucht in Peter Schlotters Gemälden? Sie ergibt sich meines Erachtens aus einer glücklichen Verbindung einer Jahrzehnte langen künstlerischen Erfahrung mit einer unmittelbaren und überzeugenden Expressionskraft. Schlotter setzt seine Bildelemente kühn auf die Leinwand, schneidet sie an, führt sie über das Bild hinaus, fängt sie durch grafische Eingriffe an anderer Stelle wieder auf, er findet Hauptformen und Nebenformen, umspielt kompakte Elemente mit leuchtenden zeichnerischen Spuren, mal nervös und zuckend wie Funken mal elegant wie Arabesken. Das Ergebnis sind ungemein spannungsvolle Kompositionen, die jedoch trotz ihrer Dynamik nie laut oder verspannt erscheinen. Manchmal macht es mir Spaß, vor allem bei gegenstandslosen Bildern, dem, was ich dort sehe, bestimmte Klänge zuzuordnen. Bei Schlotters Bildern ist mir das seltsamerweise nicht gelungen, sie sind, obwohl auf ihnen ungemein viel los ist, lautlos, wie in sich ruhend. Es sind in meinen Augen nicht die Werke eines Farbklangkomponisten, sondern eher Werke eines malenden Bildhauers. Sein Material: Pigment und Kohle. Mit kraftvollen Kohlestrichen arbeitet er seine Formen aus dem farbigen Untergrund. Die Farbwirkungen steigert er durch größtmögliche Farbkontraste. Die Farbgewalt seiner glühenden Formen rührt nicht zuletzt daher, dass er sie vor geradezu eisig kalten bläulich-grünen Hintergründen entwickelt: Ebenfalls mit einem Bildhauer gemein hat Schlotter die große Aufmerksamkeit, die er seinem Arbeitsmaterial widmet. Die außergewöhnliche Wirkung der Farben in seinen Bildern verdankt sich nämlich der Tatsache, dass der Künstler nicht einfach mit herkömmlicher Acrylfarbe malt, sondern mit reinem Pigment, das er je nach Bedarf mehr oder weniger bindet. Dadurch entsteht diese matte, farbintensive Bildoberfläche, die durch keinerlei Lichtreflexe oder Spiegelungen irritiert wird. Peter Schlotter experimentiert so lange mit der Mischung von Pigment und Bindemittel, bis er genau die Farbwirkung hat, die er in einer bestimmten Bildsituation braucht. Auf diese Weise hat er ein unglaublich reiches malerisches Ausdrucksrepertoire entwickelt, von einer fast unsichtbaren Lasur, in der die Farbe nicht mehr als eine Ahnung ist, bis hin zu Farbelementen von geradezu stechender Strahlkraft. Den Reiz dieser malerischen Vielfalt von Peter Schlotters Kunst können Sie ausführlich bei den kleinformatigen Arbeiten im Seitengang genießen: Etwa wie der Künstler unterschiedliche Farb- und Flächenwirkungen Schicht um Schicht übereinander legt und auf dieses Palimpsest dann Kohlezeichnungen wirft und diese dann wieder mit abstrakten Pinselstrichen oder sogar Pigmentmassagen weiterentwickelt. Die besagte Strahlkraft ist am intensivsten bei seinem Blau, dem „Schlotter-Blau“, dessen Mischung von Pigment und Bindemittel so perfekt ist, dass es sogar I.K.B. 73 von Yves Klein überstrahlt, wie mir Peter Schlotter versicherte. Wenn Sie sich die Gemälde dieser Ausstellung anschauen, werden Sie sehen, dass dieses Blau auf beinahe jedem seiner Bilder an irgendeiner Stelle auftaucht. Auf jedem Bild ein blauer Schlottergruß. Früher, meinte Peter Schlotter, habe er ganze Bilder in blau gemalt. Aber das wäre irgendwann einmal vorbei gewesen. Die Konzentration auf bestimmte Farben kommt bei ihm Schubweise, oft ausgelöst durch Zufälle. Auch seine roten Bilder sind das Ergebnis eines solchen Zufalls, genauer gesagt eines ganz besonders schwäbischen Zufalls. Beim Kramen in seinem Pigmentlager stieß er auf einen Beutel mit rotem Pigment: „Ha des brauch i jetzt no voll auf“, hat sich der Peter Schlotter gedacht und lustig drauf losgemalt. Es entstanden die bordeaux-roten Bilder der Reihe „Nachtrag zu Linné“. Aber als dann dieses schwermütig rote Pigment weggemalt war, hatte er immer noch Lust auf Rot, also lief er los, neues zu kaufen, helleres, lebendigeres Rot. So entstanden die beiden wärmeren Bilder „la vida breve I“ und „la vida breve II“ und so weiter, bis er einfach keine Lust mehr auf Rot hatte. Die Lust als Quell der Malerei. Wie schon bei den flämischen Stillebenkünstlern. Lust an der Farbe, den Formen, den Materialien. Über dies und anderes mehr haben sich Peter Schlotter und ich bei unserem gemeinsamen ersten Spaziergang durch die Ausstellung unterhalten, über die Bedeutung der Titel seiner Arbeiten, z.B. wie sich ihm „La vida beve“ nahe legte, weil das kühle Rot, das das Bild dominiert, für den Künstler trotz seiner Lebendigkeit auch etwas melancholisches hat. Oder auch über die für ihn typischen Bild-Teilungen: Welche Rhymthmisierungen oder erzählerische Richtungen sich aus diesen Unterbrechungen des Bildflusses ergeben u.s.w. Sie sehen: Man könnte noch lange, sehr lange über die Bilder von Peter Schlotter reden. Das jedoch soll nicht hier ex cathedra geschehen sondern das erledigen Sie besser untereinander im lockeren Gespräch bei einem Schluck Wein. Zum Schluss möchte ich nur sagen, dass es mir eine besondere Freude war, mich mit den Bildern von Peter Schlotter zu beschäftigen. Es ist ein ungeheuer reifes Werk von großer malerischer Kraft und Vielfalt. Außerdem verbindet sich in seinen Bildern das, was, wie ich finde, die Kunst in ihrem Kern ausmacht: Freiheit und Sinnlichkeit. Seine Kunst ist ein Festmahl für Hirn und Auge. Und mir bleibt nun nichts weiter, als Sie zu diesem Festmahl einzuladen und einen Guten Appetit zu wünschen.
… all this useless beauty
Bernd Storz, Kunstverein Oberer Neckar
Horb, 2004
… all this useless beauty
Horst Peter Schlotter
„…all this useless beauty“
Malerei und Collagen
Arbeiten auf Papier und Leinwand
Kunstverein Oberer Neckar e.V., Horb
25.04.2004
„Welche Vorstellung ich von den Dingen habe? Das Geheimnis der Dinge? Weiß ich, was Geheimnis ist!“ Mit diesen Worten zitiert Horst Peter Schlotter den portugiesischen Dichter Fernando Pessoa. Die Welt der Dinge Obschon sich sein Bildvokabular auf einige wenige dinghafte Vorstellungen beschränkt, spielt der Umgang mit Fragen des Gegenständlichen seit jeher eine zentrale Rolle in der Bildsprache des Malers. Die Schale oder andere bergende, gefäßartige Formen, so wie der Welt des Organischen, der Natur entlehnte Formen stehen dabei in den letzten Jahren im Vordergrund. In der Geschichte der Symbolsprache stellt das Gefäß bzw. die Schale ein universell weibliches Symbol dar, steht für Schoß, Zuflucht, Schutz, Bewahrung, Nährung, Fruchtbarkeit. Es verkörpert Nach-innen-Gerichtetsein und innere Werte. Schon vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass dinghafte Formen bei Schlotter nicht „gegenständlich“ im herkömmlichen Sinne verstanden werden, nicht Abbild sind, sondern Bild, abstrakte Bild-Zeichen, die oft einer archaischen Anmutung nicht entbehren. Und doch scheinen die Gefäßformen, die vorwiegend in den Acrylbildern auftauchen, ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutungsschwere zugleich enthoben. Schlotter scheint den Gegenstand gleichsam aus der Erinnerung hervorzuholen, um ihn in der Gegenwart des Bildes neu zu entdecken. Aus der Erinnerung, die bekanntlich ein komplexer Mix ist aus Faktischem und emotionalem Gedächtnis. Vergleicht man die Formfindungen in verschiedenen Arbeiten der letzten Jahre, entdeckt man, dass der Künstler dem Gegenstand immer wieder neue Bedeutungsebenen erschließt. Als Fragmente des Vergangenen erscheinen die Objekte in der Arbeit „All this useless beauty…“ (2004). Wie man in einer Vitrine Erinnerungsstücke vorstellt, erscheinen die Gegenstände hier nur mehr noch als Erinnerung an eine zeitlose Ästhetik, die tief in unserem Unbewussten wurzelt. Ist die gegenständliche Anspielung auf das Gefäß im genannten Beispiel noch benennbar, so entwickelt sie sich in der bereits zwei Jahre zuvor entstandenen Arbeit „Autopoeisis“ (2002) zu Formen aus der Welt bildnerischer Vorstellung, denen zwar noch ein Rest von Gesehenem anhaftet, die jedoch mit sprachlich-begrifflichen Mitteln nicht mehr zu fassen sind. Indem die Dinge im Prozess des Malens neu entstehen, unterzieht sie der Maler einem Gestaltwandel. Die Metamorphose der Dinge tendiert zum Naturhaft-Organischen und – einem weiteren Prozess der Abstrahierung folgend – schließlich zur amorphen Gestaltform. So setzt der forschend-fragende Blick auf die Dinge ihre Veränderung in Gang, in der Wahrnehmung als auch im künstlerischen Prozess. Beides – kritische Reflexion und aktiver künstlerischer Zugriff – beeinflussen sich wechselseitig und stetig. Dieses Changieren zwischen Nichtdinglichkeit und Form, zwischen benennbarem Objekt und verrätseltem Gebilde, oder – wie der Künstler es selbst formuliert – zwischen „Dingen und Undingen“ – zieht sich durch das gesamte malerische Werk und findet auch in den Arbeiten auf Papier und den Collagen Ausdruck. Die Präsenz des Stofflichen Getragen von einer künstlerischen Haltung, die offen ist für die Zwischenbereiche menschlicher Wahrnehmung, für die Symbole des Erinnerns und des Unbewussten, offenbart Horst Peter Schlotter in seinen kleinen Formaten eine Seite, die sich von den Reizen der Außenwelt, der Sinnenhaftigkeit des Materials und der unmittelbaren Anschauung der Dinge inspirieren lässt. Insbesondere im Bereich der Collage bewegt sich der Künstler – ein unermüdlicher Sammler von Fundstücken – offenbar auf der Naht zwischen innen und außen. „Ich bewege mich im Strom, es wird mir zugespielt“, beschreibt er das eigene Selbstverständnis seiner kreativen Ausgangssituation. Bildgedächtnis und außen Gefundenes begegnen sich. Da gibt es große Acrylbilder, die mit collagierten Aststücken in den realen Raum hinein erweitert werden. Da werden Abrisse von Plakatwänden – wie sogenannte „Decollagen“ wirkende Produkte des Zufalls – collagiert. Da werden Fragmente aus Katalogen in neue bildnerische Zusammenhänge gebracht. Die Collagen reagieren auf beim Sammeln entdeckte, vorgefundene Bilder und Bildzitate, die der Künstler mit sicherem Gespür für neu zu schaffende, eigene bildnerische Zusammenhänge auswählt. Sie reagieren auf Vorgegebenes wie auf Befindlichkeiten gleichermaßen und fungieren als Brücke zwischen der Leidenschaft des Sammelns und der Leidenschaft der Malerei. In der Folge der hier ausgestellten „Tilia-Variationen“ (2002) (und einiger weiterer Arbeiten) kommt zudem die Faszination zum Tragen, die von alten Papieren ausgeht, die Horst Peter Schlotter auf Gomera fand. Dieses hauchdünne, vom Licht und Wind des Atlantiks durchdrungene Papier mit dem ihm eigenen, fragilen Materialreiz korrespondiert mit den Formfindungen, die sich aus dem Umfeld von Blüten, Fruchtkörpern oder Pollen der Linde speisen. Hier äußert sich Erinnerung in der Präsenz des Stofflichen selbst. Farbräume – die Präsenz des Nicht-Stofflichen Auch Farbe ist zunächst etwas Stoffliches: Das reine Pigment, das die Künstler in Marmeladegläsern mit Deckeln bereithalten, der Binder, das Acryl. Malerei transponiert Farbe in den Bereich des Atmosphärischen. Horst Peter Schlotter öffnet, indem er Pigmentschicht über Pigmentschicht legt, Farbräume. Farbe lebt, Farbe atmet. Atmosphärische Verdichtung ist steuerbar: je weniger Binder, desto kräftiger die Strahlkraft der Pigmente. Blau und Gelb als Grundtöne waren in den letzten zehn Jahren vorherrschend in Schlotters Werk. Neu ist das Grün. Die Entwicklung von Räumlichkeit im Bild, die allein aus den bildnerischen Mitteln der Farbe heraus entsteht, wird auch in den Aufbrüchen der Fläche wirksam. Schlotter legt Wert darauf, den Malprozess nachvollziehbar zu machen. Und nachvollziehbar wird Bildräumlichkeit, wenn dort ein tiefer liegendes Gelb sich aus darüber lagernden Schichten vorschiebt, an anderer Stelle sich die Farbe an der Oberfläche pastos zu einer Farbhaut zusammenzieht oder kleine Farbtupfer mit Ölstift zum lasierenden Auftrag kontrapunktieren. Während naturalistische und realistische Malerei den Bildraum durch illusionistisch konstruierte Perspektiven gestaltet, vom Betrachter gut nachvollziehbar, weil er seine eigenen Sehgewohnheiten darin wiederfindet, fordern aus der Farbe heraus gestaltete Bildräume die aktive Beteiligung des Betrachters heraus. Dieser Intention entspricht auch die Zweiteiligkeit einiger Bilder, die zunächst irritierend erscheinen mag. Quellen der Inspiration „Überall bleibt die Spur erschöpfter Dinge zurück,“ schrieb Paul Eluard. Der französische Dichter, in den 1920er Jahren neben André Breton unbestrittenes Haupt der Surrealisten auf der Seite der Literaten, setzte sich bekanntlich als einer der ersten mit den Zusammenhängen zwischen dem gerade erst von Freud wissenschaftlich formulierten Unbewussten und der Aktivität schöpferischer Phantasie auseinander. Eluards poetische Reflexion über das Schicksal der Dinge, die als skriptuales Element Eingang gefunden hat in ein Bild von Horst Peter Schlotter, soll an dieser Stelle beispielhaft erwähnt sein für die wichtigsten Quellen der Inspiration, aus denen der Künstler schöpft: Die Begegnung mit Menschen. Die Begegnung mit sublimen Äußerungen anderer Künstler, Literaten, Musiker, die ihm der kreative „Strom“, in dem er sich bewegt, zuspielt, und die seinen ureigenen Blick auf die Dinge spiegeln und fokussieren. „All this useless beauty…“ – nicht einmal ein Satz. Eine sprachliche Andeutung des Musikers Elvis Costello als Motto dieser Ausstellung. Worte, die sich eingespielt haben in das kreative Bewusstsein des Künstlers, der gedankliche Räume öffnet für all die benutzten und neu-verwandelten Dinge, die in seinen Bildwelten auftauchen und wieder verschwinden und die zuvor in seinen Tagebuchnotaten eine erste bildnerische Verdichtung finden. Das Bild vom Bild vom Bild Quellen der Inspiration ist aber immer wieder auch die Auseinandersetzung mit Ursprung und Sinn des eigenen Tuns, sind im Entstehen begriffene Fragen und Gedanken, deren Ende noch nicht absehbar ist. Die Beziehungen zwischen Bildgedächtnis – Erinnerung – , äußeren Seh-Reizen und Möglichkeiten der Neuschöpfung treibt Horst Peter Schlotter in den letzten Jahren auf vielfältige Weise um. Er experimentiert. In seiner Serie der „Stolen Images“ fungieren Kopien anderer und eigener Bilder, deren Vorlagen ja bereits Reproduktionen fotografierter Originale darstellen, als Ausgangspunkt seiner Bildeinfälle: „wiederverwendete Erinnerung.“ „Blow ups“ nennt Schlotter Bilder in einer neuen Technik, die eine Verbindung herstellt zwischen Arbeiten auf kleinen Formaten und großformatiger Leinwand: Arbeiten auf Papier werden gescannt und dann vielfach vergrößert auf Nessel gedruckt. Die Veränderungen sind frappierend und legen den Schluss nahe, dass das Format keinen beliebigen Rahmen für eine beliebige Bildfindung darstellt, sondern selbst schon bildkonstituierend wirkt. Das Übermalen von vorhandenen Bildvorlagen wie Plakaten oder Kopien, wie es als Arbeitsprinzip übergreifend in zahlreichen Bildserien und Einzelarbeiten zum Einsatz kommt – hier dient es nun der Erweiterung malerischer Möglichkeiten, die in der ursprünglichen Arbeit angelegt sind und deren Energien auf dem Großformat neuen Ausdruck suchen. Auch dies eine Herausforderung. Und so kreisen auch im Entstehungshintergrund des bereits erwähnten Bildes mit dem Titel „Autopoeisis“ die Fragen um grundlegende Themen aktueller Malerei. Der Begriff der „Autopoesie“, der die Tendenz von Systemen zur Selbstgenerierung und Selbstregulierung beschreibt und in der aktuellen wissenschafts- und systemtheoretischen Diskussion eine wachsende Rolle spielt – von Horst Peter Schlotter wird er angewandt auf originäre Fragen der Bilderzeugung. Was kommt beim Malen von außen, was von innen?“ Wann verfestigt sich der Gedanke im Bild und wann verliert er wieder seine Dinghaftigkeit? Ohne die Reflexion von Malerei in ihrem historischen, psychologischen und sozialen Kontext und mit Blick auf die ihr eigenen Mittel ist das Hervorbringen von (ernst zu nehmenden) Bildern heute undenkbar. Der niederländische Dichter Cees Noteboom schreibt: „Jedes Bild / ist ein Erbstück von Bildern. / Ich bestimmte / nur die Ordnung…“ Ich wollte machen was noch keiner gemacht hat, einen Palast geschlossener Konstruktionen in einem eigenen luftleeren Raum. Auf meinen geheimen Wegen kam ich nicht weiter als der Bauer oder der Jäger, Fortsetzung von Acker und Beute. Jedes Bild ist ein Erbstück von Bildern. Ich bestimme nur die Ordnung nach einem strafferen Gesetz, meinen Palast. Paragraphen, in solcher Folge bisher nicht erschienen, einen Gedanken, der sich erzwingt. Cees Noteboom: Das Gesicht des Auges. Gedichte. Suhrkamp 1994
„Autopoiesis” – Bilder und Objekte
Prof. Dr. H. G. Schütz, Kunstforum Hochschwarzwald
Titisee-Neustadt, 2007
„Autopoiesis” - Bilder und Objekte
Kunstforum Hochschwarzwald. Titisee-Neustadt. Zur Ausstellungseröffnung am 14. September 2007.
Vielleicht haben Sie sich schon einmal in einer alltäglichen und eher nüchtern und kritisch aufgelegten Stimmung gefragt, wodurch sich denn ein Kunstobjekt, ein Kunstwerk von einem anderen, einem nützlichen Gegenstand unterscheidet. Nun, wenn Sie so fragen, wie ich es eben formuliert habe, dann führt diese Frage geradewegs zu einer sinnvollen Antwort. Das Kunstobjekt ist der Nützlichkeit entzogen, es ist verfremdet. Ein solcher Gegenstand, also ein Gebilde, das aus Materie, aus einem Text oder aus Tönen besteht, nennen wir poetisch – im Gegensatz zu den nützlichen Dingen des täglichen Gebrauchs. Im Griechischen bedeutet poiev machen, schaffen, aber auch erfinden. Und entsprechend bedeutet poihsiz Schöpfung oder Dichtung. Ein poetisches Gebilde ist also immer etwas Neues, etwas, was es zuvor noch nicht gab. Aus realer Materie schafft der bildende Künstler mit Farben, Formen und Räumen neue Eindrücke für unsere Sinneswahrnehmung – vor allem für die Augen. – Nun ist es allerdings nicht so, dass der Künstler ein geheimnisvolles künstlerisches Werkzeug hätte, eine Art Zauberstab, mit dem er in der Lage wäre, alles in Kunst zu verwandeln. Der künstlerische Prozess ist um einiges komplexer und andererseits auch weniger geheimnisvoll, als man sich das gemeinhin vorstellt. Der Künstler muss vor allem offen sein für das, was seine Umwelt ihm an Eindrücken bietet und vor allem, in welcher Weise Material und Werkzeuge ihm entgegenkommen und ihm Form- und Bedeutungsangebote machen. Und deshalb genügt es für mich auch nicht, ein schmeichelhaftes Porträt zeichnen oder malen zu können, um mich mit Fug und Recht als Künstler bezeichnen zu dürfen. Es sind nicht die anspruchsvollen Absichten, die ausholenden Konzepte, die das wirkliche Künstlertum ausmachen, sondern es ist eine große Offenheit und Risikobereitschaft im Wahrnehmen und Handeln. Denn der künstlerische Schaffensprozess ist ein interaktiver Vorgang, bei dem immer wieder der Künstler auch der Empfangende ist und das Werk auch vorübergehend in der Rolle des aktiv Handelnden schlüpft. Und nichts anderes meint der Begriff Autopoiesis: Das Werk schafft sich selbst, und der Künstler verändert sich, während er arbeitet – auch er erschafft sich neu. Wenn es nun so ist, dass das Werk nicht allein vom Künstler geschaffen wird, sondern dass es an der eigenen Entstehung auch selbst beteiligt ist, dann kann der Künstler es letztlich auch nicht definieren; er kann nicht dafür einstehen, dass das Werk ein für alle Mal fertig ist. Diese Tatsache weist uns als Betrachter eine neue und besonders anspruchsvolle Rolle zu. Ein Kunstwerk, welches das Atelier verlässt, ist nur zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Aber der künstlerische Prozess geht weiter, sobald wir vor das Werk treten und es wahrnehmen. Die veränderte Rolle des Betrachters sieht so aus, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, aus dem Werk die Absichten des Künstlers herauszulesen, sondern, dass wir im Werk auch etwas von uns entdecken und ihm damit etwas an Substanz, an neuer Bedeutung hinzufügen. – Und damit sind wir beim Kern des Begriffes Autopoiesis angelangt, der alle Aktivitäten umfasst, die zwischen dem Künstler und dem Werk einerseits und dem Werk und dem Betrachter andererseits stattfinden. Der Begriff Autopoiesis stammt ursprünglich aus der Biologie und steht dort für sich selbst erzeugende und steuernde Lebenssysteme. Bei Schlotter verweist er auf die komplexen Prozesse der künstlerischen Arbeit, die nicht als Einbahnstraße vom Künstler zum Werk verstanden werden sollte, sondern als zirkularer Prozess: Indem das Werk sich erzeugt, schafft auch der Künstler sich selbst – und umgekehrt. Die neuesten Bilder von Horst Peter Schlotter sind Ihnen gleich beim Betreten des Galerieraums ins Auge gefallen durch jeweils eine großflächig ins Format gesetzte in leuchtendem Krapprot gemalte vegetabile Figur. Dabei nehmen die Titel „Nachtrag zu Linné II“ und „III“ nicht direkt Bezug auf den Erfinder des Systems der Benennung von Tieren und Pflanzen Carl von Linné; sondern auf ein Gedicht, in dem Günter Kunert sich mit der Gesellschaft als System befasst. Über diesem Umweg findet Schlotter wieder zu den Lebewesen zurück, wobei es ihm jedoch nicht um biologische Funktionen und Begriffe geht, sondern um anschauliche Erfindungen, um quasi natürliche Wesen, eben Geschöpfe des Künstlers und nicht solche der Natur. Trotz des großen Formats sind die beiden Nachträge mit großer Leichtigkeit, sehr spontan und tatsächlich alla prima gemalt. Das dritte Bild aus etwa demselben Zeitraum ist hingegen während eines langen Arbeitsprozesses in mehreren Schichten entstanden. Wenn Sie die drei Gemälde aus nächster Nähe betrachten, werden Sie die Unterschiede sofort erkennen. Der Zweiteiler „Ohne Titel“, zeigt eine liegende Figur. Dieses Gebilde spekuliert nicht darüber, was natürlich sein könnte, sondern es scheint sich offensichtlich um ein Pflanzenteil, vielleicht eine Hackfrucht zu handeln. Aber hier wurde nicht mit der Hacke der Boden gelockert, und es wurde auch nicht das Unkraut ausgehackt, sondern die nützliche Frucht selber wurde ausgehackt, oberes und unteres Ende abgehackt und schließlich wurde sie in der Mitte in der Teilung der Tafeln noch einmal in zwei Teile zerhackt. Hier hat sich also eine grausame Prozedur vollzogen, und gleich zu Beginn der Ausstellung mutet es wie ein Aufschrei an. Die Mahnung, an die Kürze des Lebens zu denken, ist nicht zu überhören. – Hackfrüchte gehören überdies zu denjenigen Kulturpflanzen, deren Blüte unerwünscht ist. Sie werden bereits im jugendlichen Alter geerntet. Demnach geht es nicht einmal um die objektive Dauer einer Lebenszeit, sondern um deren künstliche Abkürzung. Vielleicht kommt Ihnen Manuel de Fallas Operntitel in den Sinn: „La vida breve“, wo das Leben einer jungen liebenden Zigeunerin ein all zu schnelles Ende findet. Oder Sie denken an den auf Hippokrates von Kos zurückgehenden Aphorismus „Das Leben ist kurz, die Kunst lang …“. Hier bietet sich die Gelegenheit, der Inhaltsebene den Rücken zu kehren und uns dem Bild wieder als Kunstwerk zuzuwenden. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ist unser aller Lebenszeit überschaubar. Das Kunstwerk aber, auch dieses, das wir als Metapher für die allzu kurze Frist unseres Daseins verstehen können, kann bei pfleglicher Behandlung auch nach einem Jahrhundert und mehr immer noch Menschen ansprechen. In der Längsachse des Raums direkt gegenüber hängt ein weiteres Diptychon, das unmittelbar vor den krapproten Bildern entstanden ist und zu dem zuletzt angesprochenen einen entschiedenen Gegenakzent setzt. Der Titel „Still III“ signalisiert uns, dass es sich um eine Art Stillleben handelt. Das Hauptmotiv bilden drei Schalen, die dicht aneinandergerückt sind. Die vordere dunkle enthält eine schwarzbraune Flüssigkeit, und obwohl wir nicht sehen können, worauf die Schale steht, wirft sie doch einen deutlich umrissenen dunklen Schlagschatten auf ihre Standfläche. Die hintere linke Schale ist zur Hälfte mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt und wird von zwei schwachen Linien überkreuzt – vielleicht sind es Zweige, die wie absichtslos auf dem Schalenrand aufliegen, weil sie einfach so heruntergefallen sind. Geradezu gewaltsam zerteilt die Fuge zwischen den beiden Tafeln diese beiden Schalen in der Vertikalen und zwingt sie zugleich wie unter einer technischen Konstruktion zusammen. In der dritten Schale scheint sich eine weißliche Flüssigkeit zu befinden, aus der drei lineare Gebilde herausragen, die man als Dampf oder Stöckchen deuten könnte. Es gibt keinerlei Hinweis auf eine Bewegung in der Szene, höchstens die Vorstellung, dass da und dort gerade ein leichtes Zittern war, das gerade zur Ruhe gekommen ist. Und diese kleinen Nichtse von Flecken oder Flocken in tiefem Kadmiumgelb könnten eher schweben als fallen. So vermittelt uns das Gemälde „Still“ eine Vorstellung von Stille, die nicht die absolute Ruhe eines schalltoten Raumes ist, sondern wir sind es selbst, die vor diesem Bild und im Dialog mit demselben still werden und zur Ruhe kommen. Nach rechts folgen drei kleinformatige Gemälde mit dem Titel „Pflanzenwesen“. Pflanzliches und Menschliches verschränkt sich auf symbiotische Weise wie in einer surrealen Welt. Es sind Traumbilder, die dazu einladen, die Gedanken und Fantasien frei schweifen zu lassen, ohne dabei in eine Meditation zu hinüberzugleiten, wie das bei dem Diptychon „Still“ möglich wäre. Die sechs Bilder an den beiden folgenden Wänden tragen den rätselhaften Titel „Roll Over Rrose“. Es handelt sich um übermalte Digi-Prints, wobei die gedruckten Passagen auf vergrößerten Collagen und Mischtechniken von Schlotter beruhen, die ihrerseits auf Bildausschnitten von Marcel Duchamps Großem Glas entstanden waren. Vergleichbares finden Sie unter den Titeln „Variation M. D.“ und „Stolen Images“. Die fünf Stelen mit dem Titel „Stèle Mâlic“ korrespondieren nicht nur in der Präsentation direkt mit der vis à vis hängenden Vierergruppe. Auch sie nehmen Bezug auf ein Detail aus Duchamps Großem Glas, den Moules Mâlic oder maskulinen Gussformen. Um den Titel „Roll Over Rrose“ zu deuten, muss ich aber noch eine kurze Erläuterung zu Marcel Duchamp geben. Dieser hatte sich nämlich als alternative Identität noch das Pseudonym Rrose Selavy zugelegt, das wie ein Frauenname klingt. Aber man muss das doppelte „R-r“ artikulieren und den Namen französisch aussprechen (woran in New York damals kaum jemand dachte), um die richtige Bedeutung zu hören: Eros – çe la vie! Schlotter bekennt sich hier nicht einfach in der Nachfolge des großen Dada-Künstlers zu Vitalität und Erotik als treibender Kraft unserer Existenz. Vielmehr unterwirft er Rrose oder Eros einem wilden und ekstatischen Roll-over und macht es zu etwas Neuem, das nur noch in einem entfernten Zusammenhang mit Duchamp steht. Sie erkennen unschwer, dass wir unversehens bei einem weiteren Gegenpol zu dem meditativen Gemälde „Still“ angelangt sind. – Zweifellos handelt es bei der Gruppe „Roll Over Rrose“ wie auch bei einigen weiteren Werken um sehr komplexe Zusammenhänge, die sich erst allmählich erschließen, wenn man sich nicht nur mit der Oberfläche, sondern auch mit den Hintergründen befasst. Ein derartiges Werk kann über viele Jahre eine Quelle immer neuer Entdeckungen sein – wenn man das möchte. Aber es ist ebenso gut denkbar, dass Sie sich eines dieser Bilder in Ihre Wohnung hängen und sich immer wieder aufs Neue von dessen enigmatischer Schönheit erfreuen und anregen lassen. In und vor der Nische in der Mitte des Ausstellungsraumes finden sich in kleinen und mittleren Formaten Collagen und Mischtechniken sowie drei kleine plastische Arbeiten. Gemeinsam ist diesen, dass Schlotter zu ihrer Herstellung von vorgegebenem Material ausging, einer Grafik, die er überzeichnete und übermalte bzw. einem Objekt, das er im Sinne eines Ready made added weiterverarbeitete. Gerade diese Miniaturen veranschaulichen auf besonders instruktive Weise noch einmal die Methode der Autopoiesis. Es handelt sich immer um Fundstücke, die auf den Künstler zukommen, sich ihm in den Weg stellen, sich anbieten zur Verwandlung. Ihr Rätselcharakter liegt in dem Bruch, der sich zwischen dem ursprünglichen illustrativen oder nützlichen Zweck einerseits und der neu hinzugewonnenen poetischen Aura andererseits auftut. Um dieses Poetische zu erkennen und zur Wirkung kommen zu lassen, ist es für den Betrachter notwendig, selbst aus den zeitrationalen Zwängen herauszutreten, und wenigstens für Momente die Freiheit von Zeitlosigkeit zuzulassen. Der Lohn solcher Bemühung ist weniger ein wissendes Erkennen als vielmehr erlebtes Glück. Somit ist das Kunstwerk letztlich für uns, für die Betrachter, eine Art Katalysator, der uns eine Fülle an Möglichkeiten eröffnet, künstlerisch zu sehen, ästhetisch zu erleben und poetisch zu genießen – und all dieses wird uns geschenkt. Wir brauchen lediglich einen angemessenen Preis zu bezahlen dafür, dass wir der Mühe der künstlerischen Produktion enthoben sind. Ihnen ist sicher bekannt, dass dies nicht für alle aktuelle Kunst gilt. Was mich betrifft, so ist es mir eine angenehme Aufgabe, Ihnen in Horst Peter Schlotter einen Künstler empfehlen zu dürfen, dem die künstlerische Qualität seiner Werke weitaus wichtiger ist als die erzielten Marktpreise.
In Stücken in der Zeit treiben
Irene Ferchl, Rathaus Süßen, 2008
Zur Ausstellung von Horst-Peter Schlotter im Rathaus Süßen 24. Februar 2008
In Stücken in der Zeit treiben
Zur Ausstellung von Horst-Peter Schlotter im Rathaus Süßen 24. Februar 2008
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Peter Schlotter, eigentlich wollte ich es vermeiden, wollte mich nicht einfangen lassen, wollte etwas völlig anderes denken, aber als ich gestern morgen gewissermaßen mit den Worten – „In Stücken in der Zeit treiben“ – auf den Lippen aufwachte und sie für Stunden nicht mehr aus dem Kopf bekam, war klar: ich muss etwas mit diesem Zitat anfangen. „In Stücken in der Zeit treiben“ hat Horst-Peter Schlotter diese Ausstellung genannt. Das klingt gut und bleibt rätselhaft: wer treibt, in welcher Zeit, warum in Stücken? Stücke, Teile, Objekte, Dinge, Sachen – das sind wesentliche Elemente auf Schlotters Bildern seit jeher. Es können Fundstücke im Sinne des Wortes sein: der nackte Vogelschädel aus dem Garten, Samen von Früchten, Schoten, Blätter, Bündel, Wurzeln; Gegenstände, die sich über die Jahre im Atelier ansammelt haben, in Zeitungen, Zeitschriften gefundene Bilder oder Relikte von Kollegenarbeiten. Diese objet trouvés werden aufgehoben, eingelagert, aufbewahrt, in der Vitrine oder im Kopf, und irgendwann tauchen sie dann in den Bildern wieder auf. Als „Stücke für Genießer“ zum Beispiel: als eine Art „petits fours“, aber nicht mit süßer bunter Zuckerglasur für den Gaumen, sondern als mit blauen Stückchen verzierte Kuben, die auf eine Art im Bildraum schweben, wie es in der Realität nicht möglich wäre: ein Augenschmaus. Oder als „Bewegliche Teile“: hier treffen eher technoide, mechanische Objekte aufeinander, die – darauf verweist die Klammer „(Alice’s)“ – angeregt wurden von Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Alice Aycock. Oder sie tauchen als blaue Früchte auf, wie sie auf dem Bild „Stillleben mit Früchten“ zu sehen sind, Früchte, von denen Schlotter sagt, er wisse nicht, worum es sich handele, irgend jemand habe sie ihm mal geschenkt und sie waren vielleicht auch nicht so blau. Aber wie sie nun hier auf dem gelben Teller liegen, vielmehr: wie die blauen Formen auf dem gelben Kreis angeordnet sind – denn als Betrachter hat man eine plane Draufsicht – und damit wird völlig unerheblich, welcher Art diese Früchte sind – es ist einfach ein schönes Bild und besonders reizvoll, weil es zudem ein Bild im Bild ist. Schauen Sie es sich noch einmal genau an! Manchmal sind die Formen gar nicht mehr Früchte zu nennen, auch nicht Kakteen oder Blätter, sondern nur noch als biomorph zu bezeichnen: irgendwie aus der Natur stammend, etwas Gewachsenes, Lebendiges. Sie erhalten ein „Eigenleben“ – wie auf dem dreiteiligen Bild mit eben diesem Titel. Ebenfalls dreiteilig ist das Gemälde von der Einladung, ein „Stillleben“, auf dem die Stille gerade erst eingetreten scheint. Spannungsvoll ist der Aufbau: ein Triptychon, das nicht symmetrisch ist (welche Art von Goldenem Schnitt der Künstler gewählt hat?), die wie zufällig schräg getürmte Ansammlung der gelben, roten, blauen undefinierbaren Formen im unteren Drittel, dahinter der türkisfarbige Fond – oder soll man sagen: eine Aufhäufung von angeschwemmtem Treibgut am Strand unter einem hellblauen Himmel? Geht das zu weit? Schlotter eröffnet uns mit seinen Bildern vielerlei Möglichkeiten des Sehens. Aber nochmal zurück zu den Objekten: Vier Bilder tragen den Titel „Lieblingsstücke“ und sie wirken wie eine Darstellung seines künstlerischen Inventars: Bündel, Stäbe, Schalen, blaue Stücke, oft schwebend, kreiselnd, oft in Bewegung. Schalen – darüber muss man ausführlicher sprechen. Während ich diesen Text schrieb, fiel mein Blick immer wieder auf eine Schale, getöpfert, mit blauem Rand, das Innere nicht zu sehen, höchstens zu ahnen, deutlich der sich mit der Sonne verändernde Schatten. Schalen tauchen in Schlotters Bildern, Zeichnungen und natürlich auch als plastische Arbeiten vermehrt seit den 1990er Jahren auf. Erst waren es gelbe Schalen, manchmal sehr beweglich mit blauem Inneren (Sie sollten mal seine Homepage besuchen), später blau, sogar manchmal die Kopfform, die Hirnschale aufgreifend. Betrachten wir die Schalenformen genauer: Es handelt sich um archaische Gegenstände, die ersten Behältnisse, die die Menschen der Frühzeit geformt haben, um daraus zu trinken. Sie sind uns deshalb ganz selbstverständlich und vertraut, als Halbkugel wohl die denkbar harmonischste Form überhaupt: bergend, schöpfend, präsentierend. Sie stehen für die Grundbedingungen des sinnlichen Wahrnehmens: Sehen, Fühlen, Schmecken und daneben als Gefäß symbolisch für Fülle und Leere, nicht zu vergessen für Kult und Ritual in allen Religionen. Das Gefäß kann auch ein Korb sein, Flechtwerk oder die Ein-Fassung für ein Stück von der Farbe Blau. Auf den Bildern, die Schlotter „Still“ nennt, besitzen die Schalen – wohl auch wegen der vertikal angeordneten, unten und oben verbindenden Stäbe – eine gewisse Aura fast wie eine Opferschale oder ein Gral – obwohl sie gar nicht so still sind. Vielleicht sogar unstill. Das Bild „Char (denkbar)“ sollten wir uns nochmal genauer betrachten. Char oder auch Kar ist ein uraltes, in den indogermanischen Sprachen verbreitetes Wort für Gefäß. Und dieses Gefäß, diese Schale hier auf dem Bild unterscheidet sich von den meisten anderen: sie wirkt durch ihre Transparenz nicht räumlich, ist sichtlich nicht aus der Anschauung entstanden, sondern eine Konstruktionszeichnung – eben: denkbar. Und die darüber schwebenden, treibenden, fliegenden, hängenden oder sich befindenden blauen Ellipsen (die man genauso wenig wie ihre Bewegung passend als Blätter oder Linsen benennen kann), sie wirken wie erstarrt, in der Bewegung angehalten. In Stücken in der Zeit treiben? Die Farbe blau ist noch immer sehr dominant, sie kann als Farbe der Stücke auftauchen oder als Inhalt einer Schale, als biomorphe Form oder sogar als leuchtender Hintergrund auf einem Hochformat: dem „Dreamcatcher“, wo der Kopf des Schläfers, der Schläferin am unteren Bildrand die unbestimmten Dinge einfängt oder auf sich bezieht. Doch seit etwa drei Jahren gibt es eine neue Farbigkeit in Schlotters Arbeiten: ein mit Weiß sehr stark aufgehellte, zwischen Türkis und Aquamarin changierende Chromoxydgrün. Es harmoniert in seiner frischen Kühle perfekt mit den kräftigen Farbtönen, ist lebendiger als das bläuliche Grau, das dem Künstler über die Jahre immer wieder als Fond diente und dient. Wann ihm die Helligkeit der aktuellen Arbeiten wieder zu langweilig wird? Gezeigt werden in dieser Ausstellung neben den meist großformatigen Leinwandbildern (Pigment und Acryl auf Nessel) und wenigen gerahmten Papierarbeiten drei Bilder, deren Technik so ungewöhnlich ist, dass ich kurz darauf eingehen möchte (außerdem gefallen sie mir besonders gut): die drei „Blow ups“. Ausgehend von vorhandenem Material, Zeichnungen, Collagen, wie Peter Schlotter sie in seinen Künstlertagebüchern realisiert und das ja auch schon diverse Stufen der Bearbeitung durchlaufen hat, hat er diese drei Bilder eingescannt, geplottet und die dann auf Canvas vergrößerten Digiprints wiederum übermalt. Durch diesen Vorgang– man könnte es analog dem ähnlichen musikalischen Produzieren als Sampeln bezeichnen – geschieht etwas Seltsames: eine Überlagerung verschiedener Schlotterscher Stile. Einmal gibt es ganz konkret die Überlagerung von Schichten, wobei das Transparentpapier mit seinen Knicken und Falten manchmal wie Höhenlinien in einem Atlas wirkt. Der mit blauen Tropfen bedeckte, gescannte Vogelschädel hätte so auch nicht gemalt werden können, ebenso wenig die Sandlawine mit ihrem blauen Auge. Diese drei Blow ups unterscheiden sich zudem von den anderen Arbeiten durch die Beschriftung, wie sie eben aus den Tagebüchern herrührt: „Nicht immer sind die Tage so aber heute“ – da kann sich jeder sein Teil dazu denken. Oder es gibt Zitate, manchmal aus der Musik, oft aus der Literatur wie hier von Paul Eluard (im französischen Original, die Übersetzung lautet etwa: „Überall wo sie vorbeikam, hat sie den Eindruck von Zerstörung hinterlassen“) oder – unter den zugeknüpften Formen, die man als Zeitpäckchen assoziieren könnte – Robert Musil: „Eine Zeit, die in Stücken in der Zeit treibt“. Da haben wir also den Satz, der sich – irgendwo einmal gehört oder gelesen – in Peter Schlotters Kopf so festgesetzt hat, dass er daraus den Ausstellungstitel gewonnen hat, und in meinem ebenfalls. Denn ich konnte mich einfach nicht beherrschen, ich musste auf die Suche gehen, musste herauskriegen, woher dieses Zitat stammt, in welchem Zusammenhang der Dichter Musil dies formuliert hat. Also: es stammt aus dem „Mann ohne Eigenschaften“, jenem weltliterarischen Meisterwerk, das wir alle nicht gelesen haben, aber dank Internet und Bibliothek kann man recherchieren, und der Satz steht im 81. Kapitel, einem Kapitel, in dem der Begriff des „Für“ oder „In“ eines Lebens reflektiert wird. Darin findet sich auch folgender Passus: „Noch im geringsten Fall ist dieses Leben ,für etwas‘ mit dem Besitz eines Notizbuchs zu vergleichen, worin alles eingetragen und Erlebtes ordentlich durchgestrichen wird. Wer das nicht tut, lebt unordentlich, wird mit den Dingen nicht fertig, und wird von ihrem Kommen und Gehen geplagt; wer dagegen ein Notizbuch hat, gleicht dem ökonomi-schen Hausvater, der jeden Nagel, jedes Stück Gummi, jeden Fetzen Stoff aufhebt, weil er weiß, daß ihm ein solcher Fund eines Tags in der Wirtschaft dienen wird.“ Ist das nicht verrückt? Peter Schlotter findet, liest oder hört irgendwann, irgendwo einen Satz und der steht just in einem Kapitel- zusammenhang, in dem das beschrieben wird, was er selber ähnlich tut. Solche Koinzidenzen sind faszinierend und sie zeigen uns, wie sich in der Kunst hinter allem Offensichtlichen weitere Schichten verbergen, die aufzudecken nie völlig gelingt. Viele Entdeckungen wünsche ich Ihnen, lassen Sie sich ein bisschen in der Zeit, in Stücken treiben – und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Blau ist nicht von hier / Die Dinge sind woanders …
Zur Ausstellung von Horst Peter Schlotter im Schillerhaus, Stuttgart-Vaihingen am 6. April 2003
Das Blau ist nicht von hier / Die Dinge sind woanders …
Zur Ausstellung von Horst Peter Schlotter im Schillerhaus,
Stuttgart-Vaihingen am 6. April 2003
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Peter Schlotter,
wenden wir uns heute nachmittag – trotz des Weltgeschehens – zunächst einmal den schönen Dingen zu, denn: Sind sie nicht schön, die Dinge?!
Die Titel der sechs kleinen Arbeiten hier, die neuesten in der Ausstellung aus diesem Jahr, behaupten es jedenfalls, und so viel italienisch verstehen wir alle: „Sono belle le cose“.
Soll ich wirklich von Dingen reden, oder nicht lieber von Farben – gelb, blau – oder von Bewegung, oder von Vorgängen oder von der Bedeutung der Titel? Von Paarbildern und Palimpsesten, von Überlagerungen, von Sequenzen und Variationen, von dem, was man sieht, auf den ersten Blick und auf den zweiten…
Und wie verschiedenartig die Arbeiten sind: die großformatigen, bei denen mit zeichnerischem Schwung Pigment mit Acryl auf Nessel oder Papier aufgebracht und an Farbe nicht gespart wird, die kleinen Tilia-Variationen (eine kennen Sie schon von der Einladung) mit ihren Transparenzen und zarten Geheimnissen zwischen den collagierten Schichten.
Horst Peter Schlotters Bilder – und das verbindet die Werkgruppen wie auch aktuelle und frühere Arbeiten – sind gegenständlich und abstrakt gleichermaßen: abstrakt aus der Bewegung, dem eher zeichnerischen als malerischen Umgang mit Farben und Formen; gegenständlich, weil immer etwas Erkennbares aufscheint.
Wir haben es mit gemalten, geklebten, irgendwie bearbeiteten Dingen zu tun, die man schwer exakt benennen oder identifizieren kann, weil es eben keine in der Realität existierenden Gegenstände sind, aber uns an etwas erinnern, an etwas, was wir schon gesehen haben, „Unterwegs“, in „Träumen“.
Manches ist ganz klar und deutlich: Schale, Blüte, Kelch – Gefäße eben.
Sie tauchen seit den frühen 90er Jahren vermehrt auf: erst als gelbe Schalen, manchmal sehr beweglich mit blauem Inneren (Sie sollten mal seine Homepage besuchen), später blau, sogar manchmal die Kopfform, die Hirnschale aufgreifend, oder schwarz wie die große „Kar“-Schüssel – Kar ist ein uraltes, in den indogermanischen Sprachen verbreitetes Wort für Gefäß. Übrigens war die Vorlage nicht etwa ein Gipserbecher, sondern eine japanische, sehr kostbare, in der Asche gebrannte Schale – besitzt sie nicht eine gewisse Aura wie eine Opferschale oder ein Gral?
Betrachten wir die Schalenformen genauer: Es sind archaische Gegenstände, die ersten Behältnisse, die die Menschen der Frühzeit geformt haben, um daraus zu trinken, sie sind uns deshalb ganz selbstverständlich und vertraut, als Halbkugel wohl die denkbar harmonischste Form überhaupt: bergend, schöpfend, präsentierend. Sie stehen für die Grundbedingungen des sinnlichen Wahrnehmens: Sehen, Fühlen, Schmecken und daneben symbolisch für Fülle und Leere, nicht zu vergessen für Kult und Ritual in allen Religionen. Gefäß kann auch ein Korb sein, Flechtwerk oder die Ein-Fassung für ein Stück von der Farbe Blau, eine Preziose wie ein Schmuckstück („Segmente“ und „Reprise“) .
Schlotter hat immer wieder auch plastische Schalen geformt, aus Ton gebrannt und sie mit verschiedensten Materialien gefüllt, um etwas zu erkunden – „Wie schmeckt die Erde“ (1999 in Korntal) – oder um „Die Überreste der Wunder“ zu bergen, so hieß seine Installation im letzten November in Möglingen.
Die Überreste der Wunder sind blau, und ich kann nicht umhin, wenigstens kurz
über diese Farbe zu reden, diese besondere Farbe, der vor einigen Jahren in Heidelberg eine eigene Ausstellung mit immer neu aufgelegtem voluminösem Katalog gewidmet war … Über die Farbe Blau werden Dissertationen geschrieben und Reportagen über deren Gewinnung – das Fra-Angelico-Blau, das Pigment für das reinste Aquamarin, hergestellt aus dem Halbedelstein Lapislazuli, stammend aus Afghanistan oder Pakistan, war immer sehr teuer, ein Kilo kostet um 24 000 Mark … Schon von daher war es für den Mantel der Madonna reserviert. Immer wieder entdecken Künstler das Blau als ihre Farbe, denken Sie nur an Yves Klein, der sie sich sogar unter seinem Namen patentieren ließ.
Über Jahre dominierte in Schlotters Bildern die Farbe gelb. Das Blau tauchte allenfalls als ein Akzent auf: als ein fremdes, befremdliches künstliches Teil, später als Inneres, dann Äußeres der Schalen, noch später gab es blaue Masken und Köpfe. Oder blaue Zweige, Früchte, Blätter, vor allem aber diese aus dem Nichts fallenden blauen Teilchen – in der schönen Ausstellung im Merklinger Steinhaus gab es sogar richtig schwebende, nämlich an unsichtbaren Fäden aufgehängte blaue Brocken, bemalte Kohlenstückchen.
Aber wie gesagt: das Blau bildete nur einen Akzent. Dies war schon anders gewesen: In den achtziger Jahren malte Schlotter Strömungsfiguren, Gestalten im Sarkophag der Erinnerung – blaue Bilder ebenso wie die Serie der Palimpseste mit ihren überlagernden Farbschichten, in die man hineinsah wie in unergründliche Tiefen.
Wenn in neueren Bildern das Blau überhand nimmt, dann ist es zum einen ein anderes Blau, ein leuchtendes, warmes Ultramarin, nicht das kühle Kobaltblau oder Blaugrau von früher, und es breitet sich geradezu aus…
Die blauen Späne, bei denen man nicht weiß, ob sie sinken oder steigen, die schwebenden blauen Stücke: sie entfalten ein Eigenleben, überziehen die Leinwand mit ihrer Leuchtkraft und schaffen es sogar, das Gelb in den Hintergrund zu drängen. So daß selbst ein „Kelch“ Mühe hat, seine Präsenz zu behaupten.
Die Dinge sind wie sie sind – oder sind sie woanders? Oder findet alles zwischen den Dingen statt? Und was ist mit den Undingen?
„Die wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgeborenen.“ schrieb Christoph Martin Wieland, und mit dieses Erkenntnis im Kopf dürfen wir uns eingestehen: Es geht überhaupt nicht um Identifikation und schon gar nicht um Benennung. Wer vorschnell Begriffe über Kunstwerke stülpt, versteht gar nichts. Dies ist keine Schale und das keine Astgabel, kein Schote, kein Trichter und (dnebenan) nicht mal hellenistische Kämpfer: es sind Bilder, die mit Ähnlichkeiten zu wirklichen Dingen spielen, manchmal kokettieren, auf Fährten locken, die vielleicht falsch, aber jedenfalls abenteuerlich sind. (vgl. Franz Marcs „Baue Pferde“)
Nehmen Sie die „Blüte“, ein zweigeteiltes Bild, auf dem eine Art Krokus oder Herbstzeitlose, aber beinahe schwarz mit blauen und gelben Samen, vor blauem und gelben Hintergrund prangt. Das kann die Sprache einigermaßen differenziert beschreiben, auch noch wiedergeben, das die beiden, nicht gleich breiten Bildteile zunächst vertauscht waren: die jetzt diagonalen Farbhintergründe, blau und gelb, zuerst nebeneinander lagen, dann umgedreht wurden. Und ich kann noch erklären, das die Paarbilder eine besondere Spannung zwischen den Teilen auszeichnet, die Spannung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden, den Verklammerungen und Abgrenzungen samt einem ungenannten, unbekannten Dazwischen. Immer benötigen sie ein Gegenstück, denn das Geheimnis ihrer Harmonie liegt in der Balance…
Wenn sie das Bild nicht vorhin gesehen hätten, könnten sie es sich nach diesen Sätzen wohl kaum vorstellen. Es bleibt immer ein Rest Ungewißheit, man kommt ihm mit Worten nie gänzlich auf die Spur, man darf immer noch weiter denken, assoziieren, phantasieren.
Mindestens einen ganz wesentlichen Aspekt muß ich noch nennen: die Bewegung.
Kein Ding ist starr: es fällt oder steigt oder schwebt und noch ein Stilleben wirkt in seiner Schwerelosigkeit lebendig und nur für diesen Moment ausbalanciert, denn in der nächsten Sekunde könnte sich alles verändern.
Zu Schlotters neuesten Arbeiten zählt die Sequenz der drei Schalen, die eine fast skizzenhafte Leichtigkeit besitzen, locker aus der Hand gezeichnet und ungeheuer lebendig: sie schaukeln, kreiseln, purzeln. Ihre helle gelblich-grünliche Farbigkeit korrespondiert mit ihrer Dynamik. Geben Sie eine neue Richtung seiner Arbeit vor? Vielleicht.
Ich war noch bei der Bewegung.
Was ist mit den Collagen-Serien, den Improvisationen, den Blossfeldt- und Tilia-Variationen? Zum Teil finden auch da Bewegungen im Bildraum statt, aber entscheidend ist hier der Fokus unserer Augen: wir versuchen betrachtend die Schichten zu durchdringen, es ist also eine Bewegung von vorne nach hinten und zurück.Bei einer „Improvisation“ finden Sie ein Auge auf dem Grund …
Die Blossfeld-Variationen sind verarbeitete Fotografien (der Fotograf der Neuen Sachlichkeit hieß Karl Blossfeld) von Pflanzenteilen, genauer von Fruchtformen: übermalt mit Acrylfarbe, überklebt mit Seidenpapier, überzogen mit Pastell, mal monochrom, mal vielfarbig. Eine wunderbare Vorlage, zumal in einer vorhandenen Menge, die zu einer Serie werden konnte und Schlotter provozierte, eine an Andy Warhol erinnernde, dem Pop-Art-Gedanken nahestehende, Arbeit zu machen.
Oder die Tilia-Serie: Sie wissen wahrscheinlich, daß Tilia der botanische Name für die Linde ist, Schlotter gibt uns mit dem Titel also Hinweise auf seine Fundstücke: die Blüten und Früchte der Linde bilden das Ausgangsmaterial – aber was heißt das schon!
Nicht weniger und nicht mehr als: da kommen in der Natur oder in seiner Alltagsumgebung Formen vor, die ihn zur Bearbeitung reizen, und zwar keineswegs nur hübsch-harmlose Lindenblütenrelikte, sondern das Foto eines Rinderschädels, einer Lampe aus dem Kunsthaus in Bregenz, ein Rasierapparat, also Gefäßformen, Organisches oder Technoides. Das ist nichts Neues. Neu sind jedoch die schier unendlichen Möglichkeiten, die die neue Computer-Technologie bietet. Denn außer Kopieren und Collagieren und Übermalen kann Schlotter jetzt zusätzlich Scannen und Ausdrucken (matt oder glänzend) und die Ergebnisse dann übermalen und Collagieren und wieder Scannen und und und: in der Musik würde man sagen: ein vielfach gesampeltes Stück …
Ich denke, die Essenz der Werke, dieser kleiner formatigen, aber keineswegs unwichtigeren Werke, bleibt: sich etwas Vorgefundenes anverwandeln, Formen zudecken oder durchscheinen lassen, etwas zwischen den Schichten verbergen oder entblößen, die Dinge so verändern, daß sie zu Undingen mutieren, ein Spiel mit den Möglichkeiten
„Ich mache mir meine Fundstücke selber“, äußerte er einmal im Scherz über die Neuerung durch die Technik, oder war es ernst? Verändert das etwas?
Wie das Finden des momentan absolut Richtigen funktioniert, darüber haben wir immer wieder gesprochen. Es betrifft Material – echte objet trouvés wie Papiere, Pflanzenteile, Werkzeuge, Überreste – genauso wie Worte: Zitate von Dichtern wie Hölderlin, Kunert, Eluard oder Fundstücke aus Büchern von Zsuzsanna Gahse, Fernando Pessoa, Vilem Flusser. Für mich immer ein besonderer Anreiz … und wenn auf einem Bild am Rand die Schrift auftaucht: „Das Blau ist nicht von hier / Die Dinge sind woanders“, dann kann sich das untergründig durch einen (meinen) Text ziehen, niemand bemerkt es, aber es ist vorhanden.
Über das zufällig-gezielte Suchen und Finden sind schon viele Theorien aufgestellt worden, verblüffend ist es allemal, vor allem, wenn es einem selbst passiert. „Zufälle sind ein Material, aus dem wir machen können, was wir wollen“, definierte Novalis. Das klingt jetzt zu sehr nach Spiel, zu wenig nach Arbeit. Aber der Begriff Arbeit darf ruhig mal wörtlich genommen werden, nicht alles, was so leichtfüßig daherkommt, ist ohne Anstrengung entstanden. Und wir, die Betrachter sind gezwungen, mitzugehen, die Provokation aufzunehmen, uns auf eine Zwiesprache einzulassen. Verstehen Sie nicht zu schnell, lassen Sie sich nicht vom schönen Schein einfangen, schauen Sie hinter die Oberfläche, zwischen die Schichten der Bilder.
Sind sie nicht schön, die Dinge, habe ich zu Anfang gefragt und wir uns wohl alle, warum Schlotter diese sechsteilige Serie mit einem italienischen Satz betitelt.
Nun muß man wissen, daß er wie ein Seismograph und zwar mit allen Sinnen die unterschiedlichsten Anregungen aufnimmt, und dazu zählen neben den Fundstücken gleichermaßen die Themen der Kultur. Literatur, Musik, Kinofilme, Theateraufführungen sind – außer der für den notorischen Ausstellungsbesucher ohnehin allgegenwärtigen Kunstszene – im Leben, Denken und Arbeiten präsent. Wenn er ausgerechnet von einer Ausstellung des Italieners Mimmo Rotellas kommend, der mit Abrissen von Plakaten öffentlicher Anschläge arbeitet, mitten in Stuttgart quasi über eine „echte“ Decollage stolpert, ergibt sich daraus natürlich ein Bild im Tagebuch („Peter triff Mimmo bei Jan“). Und wenn er Jahre später diese Papierfetzen wieder findet, denn er konnte damals einfach nicht wiederstehen, Derartiges mitzunehmen und aufzuheben, wenn also irgendwann diese Fundstücke wieder im Atelier auftauchen und Schlotter sich damit kreativ beschäftigt, justament dann singt ein italienischer Barde sein „Sono belle le cose“. Sowas kann man nicht erfinden, aber man könnte, wegen der Gefahr des Pathos, auch nicht einfach von der „Schönheit der Dinge“ sprechen. Ein bißchen Distanz durch Ironie muß schon sein und deshalb, lieber Peter, ein kleines Zitat (von Peter Rühmkorf) als Geschenk:
„Die Kunst ist auch nur ein Naturgewächs – mit Tricks“
© Irene Ferchl, April 2003
Von Tag zu Tag
Zu den Malerbüchern von Horst Peter Schlotter
Von Irene Ferchl
Erinnern wird sich bald niemand mehr
Von Tag zu Tag
Zu den Malerbüchern von Horst Peter Schlotter
Von Irene Ferchl
Erinnern wird sich bald niemand mehr
Das Buch ist nur eine von vielen Möglichkeiten, Erinnerungen zu bewahren. Texte und Bilder lassen sich genauso gut anders konservieren, auf Tonträgern oder fotografisch, als Film oder auf losen Blättern, mehr und mehr auch auf elektronischen Speichermedien. Genauso gut? Es scheint, als ob die vertraute Gestalt des Buches – jenseits der damit verbundenen nostalgischen Gefühle – doch noch andere Vorteile aufweist. Die simultane Darbietung seines Inhalts wäre einer, die Unabhängigkeit von Technik und Elektrizität, die Verfügbarkeit an allen Orten und in allen Situationen sind weitere. Doch dies ist von der Seite der Benutzer her gedacht. Warum verwendet ein Künstler, der gewohnt ist, mit großen Leinwänden oder einzelnen Papierbögen zu arbeiten, den das leere weiße Blatt nicht ängstigt, der gerne mit ausholender Gebärde die Tabula rasa bezwingt, warum unterwirft dieser Künstler sich einer Form, die stur von Seite zu Seite fortschreitet, in der jegliche Aktion nicht tilgbare Spuren hinterläßt, in der auch Mißglücktes für immer aufgehoben bleibt? Denn Seiten heraustrennen erlaubt ja die Form eines Buches nicht, anders als die Lose-Blatt-Sammlung eines Skizzenblocks. Oder steht dahinter gerade der Wunsch, sich dem Zwang einer unerbittlichen Kontinuität zu unterwerfen? Seite folgt auf Seite, wie Tag auf Tag, und fixiert das Vergehen der Zeit ebenso, wie sich darin das Schaffen in einem bestimmten Lebensabschnitt dokumentiert.
Momentaufnahmen erhalten trotz ihrer eher zufälligen Abfolge im Nachhinein eine logische Konsequenz, addieren sich zu einem Ganzen, einem Archiv der Erinnerungen.
Es wird sich verändern, um jede Leere zu füllen
Das Regal voller großformatiger Bände mit schwarzen Leinenrücken ist zunächst ein überraschender Anblick im Atelier des Künstlers – lassen die handgeschriebenen Jahreszahlen darauf doch eher an Folianten in einem historischen Archiv denken.
Tatsächlich enthalten diese überdimensionalen Kladden die Chronik eines zwanzig-jährigen Schaffens. Seit 1979 füllt Horst Peter Schlotter jährlich ein bis zwei dieser etwa 80 bis 90seitigen Bücher, die eigens für ihn, nach seinen Bedürfnissen von Susanne Neuner angefertigt werden. Der graue, stabile Karton, die schwarzen Leinenecken, die selten und dann eher kryptisch bemalten oder beschriebenen Umschläge, aber auch die Farb- und Gebrauchsspuren („Ein schmutziges Buch, das die Lektüre lohnt“ steht auf dem Band von 1994) kennzeichnen ebenso die kleinformatigen Künstler-Tagebücher von Horst Peter Schlotter, von denen er neben den großen gleichfalls zwei pro Jahr mit gemaltem, gezeichnetem, geklebtem Leben anreichert. Daneben führt und füllt er auch thematisch oder formal orientierte Leerbücher, wie ein liniertes „mit Worten“, eines mit erfundenen Landschaften, eines nur mit Aquarellen und eines – nach dem Werk des Philosophen VilŽm Flusser „Dinge und Undinge“ betiteltes – ausschließlich mit Gefundenem. Wieviele Bändchen wohl außerdem noch entstehen? Geschenke an gute Freunde, die so in den Besitz von ganz besonderen „Erst- und Eingangsausgaben“ aus dem Eigenverlag im Münklinger Kiefernweg gelangen, kostbare Unikate wie die erstaunlicherweise bisher noch immer unbeschadet von der Post beförderten Künstlerpostkarten, die Horst Peter Schlotter aus dem Urlaub in südlichen Gefilden, anläßlich von Geburtstagen und zur Wintersonnenwende („Es geht wieder aufwärts“) zu verschicken pflegt.
Nur am Rande sei erwähnt, daß Schlotter seit Jahren immer wieder mal Buchobjekte herstellt: Da verbinden sich dann beispielsweise zwei gegenüberstehende Bücher, Seite für Seite zusammengeleimt, zu einer untrennbaren Einheit, aus dem zusammengeschraubten Schnitt eines Buches quillt das struppige Fell eines Pan, oder ein über und über bemalter Buchblock läßt sich als geschlossenes Werk voller ewig gehüteter Geheimnisse lesen É
Immer sind es die Reste, die sich geltend machen
„Restfiguren“, Hüllen, vorläufige Bruchstücke, Spuren von Gewesenem, wiederentdeckte Gegenstände, ihrer Funktion beraubte Werkzeuge, überreste, die umso geheimnisvoller wirken, je weniger man sie zuordnen oder auch nur benennen kann, sind seit langem durchgehende Motive in den Arbeiten von Horst Peter Schlotter. Kein Wunder also, daß auch in die Bücher Fundstücke jeglicher Art Eingang finden. Das sind vor allem ausgeschnittene Fotografien aus Zeitungen oder Zeitschriften, Details von Fotokopien, Seiten vom Andruck des neuen Katalogs oder der Probedruck der letzten Radierung, also gesammeltes Bildmaterial, das tagesaktuell verwendet wird oder aus dem Fundus stammt, der um und umgeschichtet im richtigen Moment und Kontext das passende Stück offenbart. Das sind aber auch Pergament, Folien und Papiere, deren Transparenz oder haptische Anmutung den Künstler stimuliert; Polaroids bei denen er die Trägerschicht abgelöst hat, Zellstoff als Souvenir von einer Besichtigung in der Papierfabrik, Röntgenbilder von einem Besuch im Krankenhaus, Marmorsand von der Reise nach Carrara oder Reste von Feuerwerkskörpern nach Silvester – also objets trouvŽs im Sinne des Wortes. Und der Garten liefert dazuhin noch die Farbe von Holunder und Walnüssen. Gehört das Sammeln und Bündeln nicht zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit? (Daß sich archaisches Tun heute als Trend der sogenannten „Scrap-Books“, vorgefertigter Urlaubserinnerungsalben für zweidimensionale Souvenirs vermarkten läßt, sei nur angemerkt.)
Gegen die Attacken von zu viel Feuchtigkeit, Lösungsmitteln und mechanischer Beanspruchung grundiert Schlotter – in den letzten Jahren allerdings seltener als früher – jeweils die rechten Seiten vorher mit Acryl-Spachtel; ganz dünn aufgetragen, schützt die angetrocknete Masse das Papier vor Flüssigkeitsaufnahme, ist sogar resistent gegen Feuer und: gibt Strukturen auf den Buchseiten. Mit seinen Sprüngen und Rissen liefert der Malgrund dem Künstler bereits Anregungen; manchmal entsteht ein Bild einfach aus einem Fleck, kommentiert er selbst diesen Vorgang prosaisch. Der Umgang mit vorhandenem, teils sogar zufälligem (oder besser: unbewußt gewähltem?) Material löst einen kreativen Prozeß aus: das Suchen und Reagieren und Ausprobieren ist ganz charakteristisch für Horst Peter Schlotter – wie seit jeher die Bezeichnung „Mischtechnik“, die eigentlich für die spannungsvollen überlagerungen viel zu sachlich klingt. Nennen wir sie also Palimpseste, wie die mehrmals überschriebenen und in ihren Schichten geheimnis-volle, unentschlüsselbare Aussagen bergenden Schriftstücke der Antike und des Mittelalters.
Sehen heißt, schon gesehen haben
Was da meist zu mitternächtlicher Stunde noch schnell „hingefetzt“ wird, um im nüchternen Jargon des Malers zu bleiben, der einen glauben machen möchte, er würde in den Büchern lediglich die „Farbreste am Pinsel“ wegmalen, erlaubt einen aufschlußreichen Blick in die Werkstatt. Wer mit den Arbeiten Horst Peter Schlotters vertraut ist, die Phasen nach ihren Farbigkeiten und Topoi zu unterscheiden vermag, wird überrascht entdecken, wie früh ein Motiv in einem Malbuch schon vage auftaucht, das sich erst viel später manifestiert – wenn die Zeit dafür reif ist. Es scheint, als würde ein Thema im Buch als Ahnung skizziert und so im Denken eingelagert. Neben erstaunlichen Vorgriffen – auf Schalen- und Blattformen, auf die fallenden Dinge und Undinge, vielfach schon in den später signifikanten Farben – finden sich Rückgriffe auf längst Vergessenes, die blauen Strömungsfiguren, Hauskonstruktionen, Zauberblättchen
É Natürlich spiegeln sich in den Tagebüchern die gravierenden künstlerischen Entwicklungen vom Dunklen zum Hellen, dokumentieren sie zum Beispiel 1990 als ein heftiges gelbes Jahr („gelb macht glücklich“), dem Versuche mit grellem Rot und Grün folgten. Projekte hinterlassen ihre Spuren: Vorstufen zum Güglinger Palmtuch sind ebenso präsent wie Reminiszenzen an die Gruppenausstellung zum Thema „Spiele“, den Kreis der Maler-Freunde (die Jungfrauen) oder den verstorbenen Kollegen Jörg Neuner-Duttenhofer. Ideen, auch zu Plastischem, werden im Buch skizziert, so zum Kepler-Projekt und der „Phönix“-Aktion in Weil der Stadt oder der Installation in Böblingen, die unter dem Motto „Sehen heißt, schon gesehen haben“ nach dem Satz von Fernando Pessoa stand. Manchmal übernimmt Schlotter sogar Teile in seine großen Bilder, aber dennoch verbietet es sich, dabei von Vorzeichnungen zu sprechen, zu eigenständig sind diese Arbeiten, die sich in den letzten Jahren gelegentlich auch auf eine Doppelseite erstrecken dürfen.
Annähernd anderthalb tausend Tagebuchseiten in 17 Büchern wurden seit 1987 gefüllt, und da fällt es naturgemäß schwer, einige repräsentative auszuwählen und zu beschreiben, sind doch ihre Themen so wechselnd wie die Tage – und manchmal auch so ähnlich wie ein Folge grauer Tage É Wiederkehrende Elemente sind die Jahreszeiten, zumal mit den jeweils anfallenden Gartenarbeiten, die Kommentierung alltäglicher Begebenheiten – wie sollte der leidenschaftlicher Genießer von Kulinarischem und Kulturereignissen sich hier nicht zeigen? -, ironische Statements zur Kunstgeschichte („Soll dich doch der Brodwolf holen“) oder zum ziemlich häufigen Vorkommen von Torsi und Figuren weiblichen Geschlechts („54 % der Männer denken täglich an Sex“). Ein derartiges Aperçu bedarf logischerweise ebenso der Schriftform, wie ein erläuternder Titel oder die Anmerkung, dies habe er doch schon mal gemacht oder „dejà vu“.
Es spielt sich manches rein
Wie ein Seismograph und zwar mit allen Sinnen nimmt Horst Peter Schlotter die unterschiedlichsten Anregungen auf, und dazu zählen neben den Fundstücken glei- chermaßen die Themen der Kultur. Literatur, Musik, Kinofilme, Theateraufführungen sind – außer der für den notorischen Ausstellungsbesucher ohnehin allgegenwärtigen Kunstszene – im Leben, Denken und Arbeiten präsent. Wenn er ausgerechnet von einer Ausstellung Mimmo Rotellas kommend mitten in Stuttgart quasi über eine „echte“ Decollage stolpert, ergibt sich daraus natürlich ein Bild „Peter trifft Mimmo bei Jan“.
Oft bildet Gesehenes oder Gehörtes explizit den Anlaß für ein Bild; da gibt es – durchaus ironisch gebrochene – Anklänge an bewunderte Künstlerkollegen wie Wols, Modigliani, Beuys, Picasso, Christo, Klee; da werden Inspirationen aus der Musik, radiophon ins Ohr geflüstert, unter die Seite notiert („Playing with Laurie“), da werden vor allem Zitate aus der belletristischen oder philosophischen Lektüre vor dem Vergessen bewahrt, indem um sie herum gedacht und gearbeitet wird. Textfragmente von Autoren, die Schlotter einige Zeit begleiten, kennzeichnet er gewöhnlich bloß mit Kürzeln: H steht für Hölderlin, PE für Paul Eluard, GK für Günter Kunert, FP für Fernando Pessoa. Aber auch Flusser, Cioran oder Sloterdijk haben ihren festen Platz und nicht zuletzt Zsuzsanna Gahse, deren Sätze immer wieder mal als Titel verwendet werden („Ich könnte genausogut eine Maske aufsetzen und lachen“). Einige dieser Zitate von Autoren oder Sätze, die Schlotter in seine Bücher schrieb, betiteln nun ihrerseits die sieben Kapitel dieses Textes.
Außer der hohen Literatur spielen sich am Ende eines Tages allerlei aufgeschnappte Sprüche ins Bewußtsein: aus der Werbung („Joop side down“) oder völlig unbekannter Herkunft („Why a duck?“), von Buchtiteln („Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“) und aus dem Jazz („Heart Õn Soul“). In welcher Beziehung sie dann aber zur künstlerischen äußerung stehen, ob sie sich gegenseitig erläutern oder widersprechen, das bleibt offen – wie der Vorgang der Inspiration rätselhaft, selbst wenn das Ergebnis klar da liegt.
Furchtlos kann man alles lassen, wie es ist
Es gibt Stunden oder auch Tage, wo sich nichts fügt, an denen die Einfälle nicht kommen wollen; Phasen der Müdigkeit oder Gereiztheit, in denen die persönliche Befindlichkeit sich bestenfalls in einem Psychogramm („Angstmaschine“) Bahn brechen kann. Andererseits sind auch Stimmungen ungezügelten Leichtsinns vorhanden, wilden Temperaments, in denen beispielsweise das neue Jahr mit Drauflosmalen begrüßt wird. Und die Seiten, die während des jährlichen Fastens zwischen Aschermittwoch und Ostersamstag entstehen, sind auffallend blass und ätherisch, als sei ihnen alle Sinnlichkeit ausgetrieben. Wenn dann aber während der Pflanzzeit der Gärtner im Künstler gefragt ist, wenn Erde bearbeitet, Steine bewegt, Bäume ge-schnitten werden müssen, spiegeln sich in seinen Blättern die grüne Fruchtbarkeit und die Zufriedenheit über sichtbar erfolgreiches Tun. In den Urlaub wird das aktuelle Buch mitgenommen, die Seiten mit Sommerstücken, Sonne und Freiheit atmenden Sandbildern gefüllt. Und mit Beginn des Winters tauchen wieder dunkle Schattenbilder auf É
„Das Tagebuch ein wenig durchblättert. Eine Art Ahnung von der Organisation eines solchen Lebens bekommen“, heißt es bei Franz Kafka. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Künstlertagebuch wenig von dem Diarium eines Schriftstellers. Beide enthalten spontane, ungefilterte äußerungen, Kommentare zu Erlebtem und Gedachtem, Reflexionen über die eigene Person und das eigene Schaffen, haben eine Funktion als Materialsammlung und als Kladde zum Ausprobieren. Als „Dialog mit dem grausamen Partner“ hat der Dichter Elias Canetti sein Tagebuchschreiben bezeichnet und dessen Bedeutung für ihn folgendermaßen formuliert: „Es ist eine Beruhigung des Augenblicks [É], auf die Dauer gesehen hat das Tagebuch genau die umgekehrte Wirkung, es erlaubt einem die Einschläferung nicht, es stört den natürlichen Verklärungsprozeß einer Vergangenheit, die sich selbst überlassen bleibt, es hält einen wach und bissig.“ Bevor sie als Tage-Buch einem Publikum präsentiert werden, bearbeiten die Autorinnen und Autoren gemeinhin ihre privaten Aufzeichnungen, streichen allzu intime oder Mitmenschen möglicherweise verletzende Bemerkungen, bringen im Nachhinein eine logische Stimmigkeit hinein und glätten stilistische Unebenheiten. Für diesen Katalog hat Horst Peter Schlotter eine Auswahl von Seiten getroffen, die ihm repräsentativ erschienen, die als Momentaufnahmen pars pro toto und jede für sich mit Recht neben den Arbeiten auf Papier und Leinwand stehen können.
This book is a kind of home entertainment
Unterhaltung für einsame Stunden im Atelier? Der Künstler beliebt zu scherzen, auch wenn er die Kunst zur Flucht vor der Wirklichkeit erklärt. Das Gegenteil ist der Fall: die ihn umgebende Realität, einschließlich der politischen, auch die mehrerer Kriege (wie lang liegt eigentlich der Golfkrieg zurück?) dringt zwischen die Seiten der Malerbücher. Sie bewahren Erinnerungen, persönliche vor allem, daneben allgemeingültige, und sie bilden als eine Folge von Momentaufnahmen beides ab: den ständigen Wandel und das sich doch Gleichbleiben eines Menschen in seinen Vorstellungen, Zielen, Vorlieben, Affinitäten.
„Man fragt sich, wo ist der Fortschritt“, kommentiert Schlotter – kokett oder ratlos? – ein Blatt, und notiert unter ein anderes „Was soll das bedeuten?“
Darauf eine, vielleicht sogar mehrere Antworten zu geben, zur intensiven Beschäftigung einzuladen, mit dem was die Kunst ist und will, genau das ist die Rolle, die auch den Büchern zufällt. Denn in diesem inneren Laboratorium herrscht eine Atmosphäre, die ein „Memento mori“ ebenso zuläßt wie das Motto „heitere Gelassenheit“.
Vielleicht klingt das Zitat aus einem Buch von 1990 fast ein wenig zu abgeklärt, um den Schlußsatz zu bilden, aber warum sich nicht zum Authentischen bekennen? Der Künstler hat ja nicht nur die Aufgabe, das Schöne zu verbergen: „Daß die Welt mich hinreißt und ich mich erinnern werde“.
Der Grund der Erinnerung
Von Zsuzsanna Gahse
Der Grund der Erinnerung
Von Zsuzsanna Gahse
Zwanzig Jahre, zwei Jahrzehnte, was bedeuten sie für die Erinnerung? Für die Erinnerung an sich, vor allem aber als Bild, als Bildsammlung, als vorliegende und/oder im Kopf verbliebene Bildansammlung?
Ich kenne Peter Schlotter seit etwas mehr als zwanzig Jahren. Etwa im selben Zeitraum haben sich auch seine Tagebucherinnerung angehäuft. Sie haben sich angereichert.
Als ich seine Arbeiten kennenlernte, hatte ich den Eindruck (fragte ich mich), ob er möglichst alles, was es gibt, vergraben oder alles ausgraben wollte. Alles! Dieses Ausgraben, Eingraben lag nicht nur an den Bildmotiven – Schaufel, Spaten, Holzkisten in den Boden versenkt oder von dort ausgehoben, irdene Teller, versehrte und unversehrte Schüssel, um nur einige Ansatzpunkte zu nennen – es lag von vornherein auch an seinen schon damals bevorzugten Farben, die sich mit einigen Verschiebungen oder Mutationen gehalten haben. Hellbeige, Gelb, Ocker, Sand, Umber.
Daß sich etwas hält, bedeutet Treue. Auch wenn sich Farbgedanken halten – trotz kleinen Verschiebungen Variationen und Mutationen – geht es um Treue. Etwas übertrieben gesagt (und dabei auf die Vergangenheit des Wortes vertrauend): Treue zeigt, was wahr ist, man muß nur ins Englische hinüberblicken, was dort aus dem Wort treu geworden ist. Es heißt wahr.
Die Treue zur Erinnerung. Auf Umwegen sind die Tagebücher auf diese Treue aus, auf das Wahre also und auf das Bewahren. Zunächst geht es täglich um die Kurzzeiterinnerung. So gut wie jeden Tag gibt es eine Eintragung in die mächtigen Bildtagebücher! Die Eintragungen sind ein Rückblick an die Beinahe-Gegenwart. Allmählich, im Laufe der Jahre (in diesem konkreten Fall von 1987 bis 1999), gehören die alten Tagebuchblätter zur Langzeiterinnerung. Es ist einfach gesagt, daß sich die Kurzzeit- in eine Langzeiterinnerung verwandelt. Das Gedächtnis muß diese Umwandlung nicht unbedingt mitmachen. Man muß es zu dieser Arbeit herausfordern, eher noch verleiten. Das Gedächtnis will sich durchaus nicht alles (alles!) merken, was ihm vorgelegt wird, was ihm die Kurzzeiterinnerung anbietet. Aber wenn ihm wiederholt etwas angeboten wird, wenn der Kopf über Jahre hinweg mit Bildern bestürmt wird, wird sich bestimmt eine große Erinnerung ausbilden können. Über Jahre hinweg täglich ein Bild. Insgesamt Hunderte, Tausende von Bildern. Vorstellbar wären auch mehrere Bilder pro Tag, um einmal zu sehen, wie viele Bilder es pro Tag überhaupt geben kann. Auch das wäre eine Frage nach dem „Alles“. Wie viele Bilder, was alles vom Tage aufbewahrt wird. Schlotters verschmitzte Antwort heißt: „Zwanzig Bilder pro Sekunde ergeben einen Film.“ Über Jahre hinweg die zwinkernd diffusen Apriltage, die überhellen Sommertage, der ernste oder üppige oder verregnete oder sinngeladene Herbst, der Winter, dann wieder ein Neubeginn. Januar undsoweiter bis Januar. Der Tagebuchzeichner und -maler hat keine Angst vor der Wiederholung. Weder vor der Wiederholung, noch vor der Treue zu den Tagen. Der Sommer naht, am 7. August Besuch bei Hans, so steht es auf einem Blatt, und an diesem 7. August kommt in die eher zurückhaltenden Farben ein knalliges Rot. An einem anderen Tag ein tiefes Blau, ein anderes mal ein Rostbraun. Kräftige Farben lauern also im Hintergrund.
Aber die Umkehrung ist auch überraschend. Wenn das Gelb und Ocker und Umber im Vergleich geradezu laut erscheinen: Am 18.12.(92) findet sich wieder eine Satzbegleitung neben dem Bild, „Kurz vor Wintersonnenwende“, das Blatt ist beinahe weiß, ein grüner Sonnenkreis umschließt einen weißen Sonnenbauch, und das dumpfe Dezemberhell wird durch ein mattes, aufgeklebtes Pergamentband noch unterstrichen.
Ist das der Außen- oder der Innendezember? Und sind die Tagebuchblätter Innen- oder Außenbilder oder Mittler zwischen beiden Möglichkeiten, wie sie mit Sicherheit auch zwischen Bildhaftigkeit und Sprache vermitteln wollen.
Von Anfang an bis zu den jüngsten Zeichnungen tauchen unter oder über den Tageseintragungen Sätze oder Satzteile auf, und mal stammen sie vom Tagebuchschreiber selbst, mal grüßen Zitate in die Zeichnungen hinein.
Manchmal wirken die Sätze, als seien sie aus einem geschriebenen Tagebuch herübergewandert, als wollte der Tageblattsammler vielleicht in der herkömmlichen Form fortfahren und wirklich losschreiben, wie es die Schriftstellerkollegen tun, die leider unzählige Muster im Hinterkopf haben und ringend nach einem eigenen Ton suchen müssen, während es für die Tagebuchbilder ja kaum Vorbilder gibt. Dann bleibt es aber zum Glück bei den Bildern und Halbzeilen.
„Das Leben hält Begründungen nicht Stand“ steht über der Eintragung vom 11.1.99. Ein Jahresbeginnblatt. Ein Gedanke vom Jahresanfang, die Zusammenfassung von dem, was vor einem liegt, von einer Vorerinnerung. Blasses Orangeviereck, darin ein schwarzmelierter Kelch. Der Kelch als Leben? Oder ist der Grund im Kelch das Entscheidende? Dieser Grund ist nicht sichtbar; es ist nicht zu sehen, was auf dem Grund liegt. Innen im Kelch liegt der Grund der Erinnerung. Beziehungsweise gibt es keinen Grund für die Erinnerung, oder der Grund für die Erinnerungen entzieht sich der Sicht, alle oder beinahe alle Gründe für die fixierten Erinnerungen und auch für das, was in Vergessenheit gerät, sind weitgehend unsichtbar.
Gegen die Unsichtbarkeit der Gründe bäumen sich diese Tagebuchblätter auf. Dagegen entfalten sie sich, reihen sie sich, sammeln sich, sammeln sich an, widersprechen, bestätigen und ergänzen einander im Widersprechen. Erfüllen sich gegenseitig ihre Wünsche. Mit traumwandlerischer Sicherheit versuchen sie eine gewisse Ordnung zu finden, ein Gleichgewicht zwischen Wünschen, Denken, Beobachten und Träumen.
„Wenn Leute ihre Träume aufrichtig erzählen wollten, da ließe sich der Charakter eher daraus erraten, als aus dem Gesicht“ schrieb Georg Christoph Lichtenberg (der große, kluge Tagebuchsatzsammler). Demnach läßt Horst Peter Schlotter das eigene Gesicht sehr gut erkennen; beständig und gründlich erzählt er von seinen Träumen, Wünschen, Gedanken, Beobachtungen und Vorlieben. Er sammelt sie, häuft sie an, errichtet Berge von Erinnerungen, trägt sie wieder ab, gräbt sie ein, gräbt sie aus. Zutiefst liegt der Grund der Erinnerung, sie läßt sich nicht ergraben, was ein gutes Omen für die noch folgenden Tagebücher ist.
Anmerkungen zum künstlerischen Koordinatensystem von H.P. Schlotter
von Götz Heim
Anmerkungen zum künstlerischen Koordinatensystem
von H.P. Schlotter
Wer sich mit Bildern einläßt, könnte Wittgenstein in seinem Ohr haben, seine Strenge, klassifizierende Festlegung im Tractatus: „Das Bild bildet Wirklichkeit ab, indem es eine Möglichkeit des Bestehens und nicht Bestehens von Sachverhalten darstellt.“
Die Wirklichkeit des Bildes ist hier eine mögliche Wirklichkeit auf der Grenzlinie, auf der bestehende Sachverhalte nicht bestehenden begegnen könnten, auf der sichtbar werdende Dinge in ihrer realen Möglichkeit und Undinge in ihrer virtuellen Kategorie Platz haben: Wirklichkeiten in einer möglichen Realitätsform, die offen bleibt für Transformationen und Metamorphosen: Transitorien für unsere Augen, für unsere Köpfe… Die Substanz seines kreativen Prozesses ist das Leben, die konkrete Realität seiner Existenz, die aus erfahrenen, wahrgenommenen Formen schöpft, ohne sie einfach nur wieder aufscheinen zu lassen in einer abgebildeten Wirklichkeit. Fundstücke finden sich in seinem Fundus von Gefundenem, Geformtes in einem neuen Zusammenklang von Form und Nicht-Form, von scheinbar Faßbarem und sich sich Entziehendem, Benennbarem und Namenlosem, noch Namenlosem.
Götz Heim, 1997
Singles, Paare, Denkstücke
Irene Ferchl
Singles, Paare, Denkstücke
Ein Paar ist ein Paar durch die Spannung zwischen seinen beiden Teilen: Den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, den Verklammerungen und Abgrenzungen samt einem ungenannten, unbekannten Dazwischen. Das gilt für Menschen-Paare und gleichermaßen für die Paarbilder von Horst Peter Schlotter, die nebeneinander entstehen, während des Malprozesses durchaus gedreht und gewendet werden können. Immer benötigen sie ein Gegenstück, denn das Geheimnis ihrer Harmonie liegt in der Balance…
Und die Singles? Sind sie sich allein genug oder fehlt ihnen ein Äquivalent? Sie behaupten sich scheinbar bewußt als Fragment – was ließe sich überhaupt als vollständig, gar vollkommen bezeichnen! Auch hier sind es die Ränder, die Übergänge und Leerstellen, also potentielle Berührungspunkte, die den Blick des Betrachters anziehen, seine Assoziationsfähigkeit fordern, um die Ecke und weiter zu denken. „Denkstücke“ im Sinne einer Zwiesprache zwischen Bild und Betrachter nennt Horst Peter Schlotter eine Serie von Arbeiten auf Papier. Sie keimen als spontane Folge aus der Hand heraus, gleichsam eine „écriture automatique“, eine Niederschrift in einfachen, ursprünglichen Formen-Improvisation und malerische Reflexion zugleich…
Irene Ferchl, 1996
Aus: Masques et Bergamasques
von Gerhard von der Grinten
Aus: Masques et Bergamasques
Schöpfung liegt zwischen Ding und Unding, auf dem Weg vom Stoff zum Wesen. Denn wer das Abenteuer unternimmt, dem, was ihm an Kreativem mitgegeben ist, Raum und Form zu leihen, der verleiht ihm auch die Freiheit. Und damit malt ein jedes Bild, webt sich jedes Stück Musik, und jede Lyrik und Prosa selber. Entwickelt eigene Dynamik und Unabhängigkeit von ihrem Schöpfer, der mag selber staunend zusehen. Unding und Ding ist alle Kunst, Stein des Anstoßes und der Verwunderung…
Horst Peter Schlotters Sprache, sei sie noch so befruchtet von den äußeren Reizen, der Prosodie der Lyriker und Philosophen ist von lakonischer Art. Voll von Anspielungen und Querverweisen, doch ohne Not sie auch zu illustrieren. Erscheinungen sind diese hier, leuchtende, unstoffliche aus doch sehr konkreter Farbe: Ein kristallenes Glitzern von Pigmenten, von Indischgelb hin zu Zitron, Weiß, Schwarz als Gegenspieler, gleißend ungeheures Blau, Ultramarin, in unbedingteste der Farben; die übrigen, Zinnoberrot und Karmesin, Erdfarben, sachtes Grünen, Gräuen, es sind Spurenelemente, klingende gewiß, denn auch Farbe gewinnt ja erst aus dem Kontrastieren ihren Klang…
Die Bildräume, die sich so ergeben, sind lichterfüllt und numinos. Die Konkretion der Gegenstände fraglich… Die Bezogenheit der Objekte untereinander sind subtil, sie erschließen sich dem Betrachter vielleicht, nicht dem Versuch, sie erklären zu wollen.
Gerhard van der Grinten, 1997
Das Sinnliche und das Erhabene
Blick zurück
von Michael Wenger
Das Sinnliche und das Erhabene
Blick zurück
Werkbänke, technoide Bruchstücke, Überreste, Stätten offensichtlicher Tätigkeit, Spuren menschlicher Handlungen… Industriestilleben. – Betrachtet man die Arbeiten Horst Peter Schlotters aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre, dominieren Dokumentationen konkreter Situationen. Zunächst wirken diese Werke wie Ansammlungen von Gegenständen in ihrem alltäglichen Zusammenhang. Eindringlichkeit erhalten die Bilder durch ihre atmosphärische Verdichtung, die den Eindruck von Verlassenheit erzeugt. Dieser Eindruck gipfelt in anklagenden Betitelungen wie „Was tatet ihr mit dem Rest“. Demonstrativ weist Schlotter auf banal erscheinende Reststücke, Überbleibsel, die – ihrer Funktion beraubt – wie auf Altären des Abraums arrangiert dargeboten werden: Mahnung und Fanal. Eine Nobilitierung der zumeist erkennbaren Dinge geschieht allein durch ihre Hervorhebung. Das „Übersehbare“ wird in der Tradition von Stillebenmalerei herausgegriffen, um es mit verschlüsselten Inhalten zu füllen: Vanitas-Gedanken im ausgehenden 20. Jahrhundert. Botschaften eines zu Ende gehenden Zeitalters, die Erinnerung und Überhöhung des Alltäglichen implizieren. Das Angesammelte wird aus der reinen Anhäufung durch verschiedene Vorgehensweisen gelöst. Die sperrigen Fundstücke werden deformiert, in spannungsgeladene Farbkontraste und dynamische Kompositionen eingebunden. Dabei gewinnt das Zeichnerische immer wieder die Oberhand und wird in spontane Gestik übertragen, die in brachiale Heftigkeit münden kann. Dichte, Schwere und Düsternis in schwarz aufgeladenen Arbeiten sind aggressive Gründe für die von Restantriebskräften in Rotation bewegten Mechaniken und die in kreisenden Bewegungen um die eigenen Achse befangenen Werkstücke. Die Bewegung um den immer gleichen Punkt – festgebohrt und festgebrannt – ist Metapher der Stagnation. Diese Suggestionen sind in ausschnitthaft gesehenen, durch Eckpunkte und Markierungen definierten Bildräumen fest verankert. Sie verlieren die Bodenhaftung nicht. Selten und zumeist erst Ende der 80er Jahre sind die Ordnungen verkehrt und umgestürzt, werden die Drehmomente zum Aufbrechen des definierten Oben und Unten. Hier wird der in den Arbeiten der 90er Jahren gereifte Vorgang, den Eindruck der Schwerelosigkeit zu erzeugen schon in Ansätzen greifbar. Die 1989 einsetzende Teilung des Bildes als Motiv der konkreten Öffnung der Komposition und der Flächenhaftigkeit, die der Zweidimensionalität des Bildes anhaftet, wird später zum Mittel eine eigene, neue Räumlichkeit zu schaffen.
Zwischen den Dingen
In den Arbeiten der 80er Jahre häufte Schlotter zuweilen seine „Dinge“ zu ausladenden Arrangements. In den 90er Jahren ist diese Vorgehensweise meist einer Auswahl und Vereinzelung von Objekten gewichen. Technische Gerätschaften sind nur mehr vereinzelt zu entdecken. Sie wurden fast gänzlich gegen Schalen oder Stäbe, Masken oder Blattformen, Reifen und Ringe oder Kugeln vertauscht – Archaismen. All diese Gegenstände sind auf Grundformen reduziert, so daß sie nicht als einzigartig oder konkret bestimmbar erscheinen, sondern ihre Zeichenhaftigkeit betont wird. So haftet dem Gegenständlichen, den an Gegenständliches erinnernden (!) Formen ein hoher Grad Abstraktion an. Diese Gegenstände sind zudem in andere Zusammenhänge, in ein anderes Umfeld gestellt, so daß ihnen ihre eigentliche, nur umschreibende Benennung, das heißt Verdinglichung, weitgehend abhanden gekommen ist. Das Gefundene, der konkrete Gegenstand schimmert durch, aber er tritt hinter die von Schlotter geschöpfte Formfindung zurück:
„Formen sind nicht gegeben, sondern erfunden“ (VilŽm Flusser). Das Identifizierbare wird deformiert, aufgelöst, addiert, verwachsen, überlagert, verkleinert oder vergrößert. Das alles hat zum Ziel, daß Formen zum Teil noch erkennbar sind, aber in unserer Sehwelt nicht mehr in gewohnter Weise mit dem entsprechenden Begriff belegt werden können. Die geometrische Grundgestalt ist betont und so zur Essenz- oder Elementarform gewandelt. Diese Formen benennen ihre Verdinglichung weniger, als daß sie sie umschreiben. Irritation ist der erste Schritt, Aufmerksamkeit zu wecken und dem Altgewohnten neu zu begegnen. Dem individuellen Fundus an Bedeutungs-Dingen gesellen sich „zufallende“ Entdeckungen und Funde literarischer, philosophischer oder dinglicher Art hinzu. Dem eigenen und eigengeschaffenen Fundus werden sie sofort anverwandelt. Grundelemente sind denkbar einfach. Ihnen gesellen sich nun in einem im Schaffensprozeß verselbständigten Vorgang Neufindungen hinzu, die im Zusammenhang neue Bedeutungsebenen entstehen lassen. Die Dinge haben sich von ihren Bezeichnungen gelöst, gleichsam befreit und können neu benannt werden. Schlotter läßt einen in sich schlüssigen Dinge-Mikrokosmos entstehen, der nicht Beliebigkeit, sondern eine Assoziationsstruktur besitzt: „Dingen und Undingen“ Struktur, ein auratisches Feld zu schaffen, dem eine metaphysische Dimension, ein romantischer Schauer innewohnt.
Flüchtiges und Träges
Neigte Schlotter schon immer zu dynamischen Kompositionen, so finden sich diese Ansätze in den letzten Jahren in stärkerem Maße. Es herrschen Spannungen auf der Fläche, zwischen den Dingen, die im Kontrast zur dämmrigen Dunstwirkung der Farbanlagen stehen und so das Motiv des Schwebens hervorheben. Durch extreme Formate betont er die Bewegtheit oder die Bewegung der Dinge im Räumlichen. Schmale Bildfelder zwingen den Betrachter in Aufwärts- oder Abwärtsabläufen zu denken. Der Ausschnitt dieser Wirklichkeit ist kühn gewählt. Willkürlichkeit scheint im Spiel zu sein, wenn die Dinge unvollständig, abgeschnitten an Rändern oder Kanten scheinbar haltlos im Bildgrund hängen.
Betrachterparallel aufgebaute Breitformate wirken wie Ausschnitte aus Sequenzen, die sich in zeitlupenhaftem Tempo zu verwandeln scheinen. Zeitdehnung oder ihre Raffung ist ein Thema Schlotters, das in diesen Wandlungsbildern, Verwandlungsbildern aufscheint. Schlieren deuten wie Kometenschweife das Fallen der glühenden Kugeln zur Schale mit ihren erkalteten Geschwistern an. Der Moment der Veränderung vom tiefsatten Rot zum stählernen Blau ist eingefangen. Die Komposition unterstreicht die Augenblicke, in denen sich die Wesenhaftigkeit der Kugel vom einen in den anderen Zustand ergeben hat. Der transitorische Moment fällt mit dem labilen Gleichgewicht der Kräfte in den Kompositionen Schlotters zusammen. Wie bei der Ovidschen Metamorphose Daphnes in einen Lorbeerbaum wird der Betrachter Zeuge einer unumkehrbaren Situation, die den Kern der Sache in eine andere Dimension überleitet: es kippt von der einen in die andere Bedeutungsebene. Dem Flüchtigen dieser Situation haftet etwas Barock-dramatisches an. Es ist ein Pathos, das Schlotter immer wieder durch kühlkalkulierte Bildbauten bricht. Sie offenbaren das verstandesmäßige Vorgehen des Künstlers und den Schöpfungsakt des Werkes als gedachten Vorgang. In den Bildern, die zwischen dem Empfundenen und Erdachten labil changieren, findet sich Schlotters großartiges Können: Dem Kurzlebigen, dem Moment des Aufleuchtens weiterer Möglichkeiten, weiterer Facetten des Daseins Dauer zu verleihen.
„Eine Art Vorgang“
Erzählt Horst Peter Schlotter in seinen Arbeiten Geschichten? Nimmt man die literarische Durchdringung seines Werkes in Titeln oder Bildzitaten als vordergründigstes Indiz, ist das erzählerische Moment belegt. Betrachtet man die Abläufe in seinen großformatigen Arbeiten, die mittels durchdachter Formulierungen im Einklang mit der Komposition greifbar werden, öffnet sich eine zweite Ebene des Erzählens. Maltagebücher stehen bei Schlotter im Hintergrund seines Vorgehens. Serien auf Papier sind Variationen eines Themas in unerhörter Fülle. Die Fortsetzung in schier unendlicher Fabulierlust zeigt, daß die einmal von ihm sich selbst gestellte Aufgabe in immer neuen Findungen greifbar werden soll. Sie berichten von Zuständen und Befindlichkeiten, können zu Papier gebrachte Gedankenimpressionen oder kleine geschwätzige, ornamental gebildete Zierstückchen sein, die zuweilen selbstgefällig vom Umgang Schlotters mit seinem Können Zeugnis ablegen. Im besten Falle ergeben sie sich aus Gedankenketten, die Stationen gedanklicher Abläufe skizzenhaft wiedergeben: „Denkstücke“. Sie können bei der spontanen Geste stehen bleiben, die nichts sein will, als umrissene Idee.
Sie können sich jedoch über dieses schwankendspannungseiche Ungefähre, was den Papierarbeiten seit altersher eigen ist und ihren momenthaften Reiz unterstreicht, weit hinaus gelangen, wenn die Serie sich zu den Essenzen, wenn die Kette sich zu dichten Kürzeln des Eigentlichen verdichtet hat. So sind Schlotters Geschichten keine herkömmlichen Erzählungen. Sie öffnen den Blick hinter die Vordergrundsebene der scheinbar alleingültigen Realität. Sie berichten von anderen Wirklichkeiten, die zeichenhaft reduziert von deren Existenz künden.
Raum und Räumliches
Vertiefung in die Bildebenen. Was geschieht auf diesen Bildern mit dem Raum? Wie definiert der Künstler diesen Raum, die Gegenstände in ihrem Umraum? Und wie beziehen sich Raum und Ding aufeinander? Sind die Formen Schlotters auch noch so hart in zeichnerischer Geste umrissen, so schlingern die farbigen Innenflächen in die Farbigkeit des Bildgrundes hinein. Die Dinge werden transparent, sie scheinen durch die gezeichnete Linie erst aus dem Grund herausgelöst worden zu sein, um sich dann kräftig – wie in einem Schöpfungsakt – verselbständigen zu können. Sie changieren und wirken trotz kraftvoller Fassung wie in einer Zwischenzone befangen. Irene Ferchl macht in diesem Zusammenhang auf das „unbekannte Dazwischen“ aufmerksam. Um Tiefenwirkungen zu erzielen, staffelte sich in den illusionistischen Bildwelten von der Renaissance bis in unser Jahrhundert Ebene um Ebene kulissenartig hintereinander. In manchen Arbeiten Schlotters finden sich bruchstückhaft Relikte dieser Vorgehensweise, wenn zeichnerisch geschaffene Bildräume durch Linien oder Winkelformen auf diese „Schichtungen“ zurückzuführen sind. Schlotter läßt Bilder durch extreme Tafelwirkungen wie Reliefs vor der Wand stehen. Fläche steht vor Fläche und gewinnt Tiefe. Seine Paarbilder sind eigentlich getrennte Hälften oder Teile eines ehemals Ganzen. Bilder, die wie von einem Schiebemechanismus auseinander getrieben werden: Brüche mit der Sehwelt, Brüche in der Bildwelt. Schlotter verweigert sich dem Abbilden, der Wiedergabe, der Raumillusion, um den Betrachter im gleichen Augenblick, im selben Werk optisch in die Tiefe der Farben zu entführen. Die Bildgrenze als solche wird durch die Ausschnitthaftigkeit negiert. In diesem Wirklichkeitsauschnitt sind keine Raumgrenzen markiert. Schon darin zeigt sich Schlotters Wollen ein Stück undefinierten Raum auszuwählen, den er unbedingt, das heißt ohne Vorgaben, ohne sehgewohnte Realität füllen und aufheizen kann. Die Lichtwelt Schlotters baut nicht Tiefe durch Kulisse auf, sondern sie verfährt gegenteilig. Pigmentschicht legt sich auf Pigmentschicht, so daß eine fast reliefartig anmutende, haptische Oberfläche höchster Dichte entsteht, die eine ungeheure Strahlkraft entfaltet. Dieser Intensität, die nuanciert abgeschwächt oder aufgeladen werden kann, werden nun „Gegenständlichkeiten“ anvertraut. Vor dieser Räumlichkeit der Farbtiefen, erscheinen Dingzeichen, die sich auf glühendem oder leuchtendem Gelb absetzen und auratischen Charakter annehmen können. Sie sind der Schwere der Realität enthoben und erhalten eine Überhöhung, die eine sakrale Weihe besitzt. Erhabenheit, die als Begriff in der Kunstwelt der Romantik und der Klassik eine so herausragende Bedeutung besessen hat, gewinnt hier wieder Gewicht. Jedoch wird in den Arbeiten Schlotters das scheinbar Alltägliche zum außerordentlichen Ereignis, zur Eröffnung des „Wesens der Dinge“. Daß es sich nicht um distanzierte Idealzustände handelt, sondern nur um andere Schichten der gleichen Wirklichkeit, in der sich der Betrachter bewegt, wird nicht zuletzt durch die Sinnlichkeit der Farben unterstrichen. Eine Sinnlichkeit die im Bild fast erotischphysische Intensität erreichen kann. Schlotter strebt eine Versöhnung zwischen diesen beiden Polen an und schafft zugleich eine Gegenwelt, die den Zustand der physischen und psychischen Entrücktheit noch zuläßt.
Michael Wenger Juni/Juli 1999